„Old Town Road“ von Lil Nas ist der bisher größte Hit des Jahres. Und es käme schon einer kleinen Sensation gleich, wenn sich das bis Ende 2019 noch ändern würde. Schon jetzt hat der Song alleine in den USA bereits sämtliche Rekorde gebrochen, stand unglaubliche 19 Woche an der Spitze der Billboard-Charts. Der Sturm, der um die Komposition entflammte, als sie nachträglich aus den US-Country-Charts verbannt wurde, hat eine objektive Berichterstattung nahezu unmöglich gemacht. Und doch muss man es ganz klar sagen: Dieser Song, das erscheint nun mehr als wahrscheinlich, markiert einen Wendepunkt für die Musikindustrie.
Mit dem Country-Skandal und dem experimentellen Sound der Produktion hat das herzlich wenig zu tun. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre haben es Country- und Folk-beeinflusste Cross-Over-Stücke mit geradezu uhrwerkhafter Regelmäßigkeit immer wieder in die obersten Regionen der Hitparaden geschafft, von dem Techno-Stampfer „Cotton Eye Joe“ (1994) über den Country-Hop von Everlasts „What it's like“ (1998) und der Zusammenarbeit zwischen dem Duo Florida Georgia Line und Nelly auf „Cruise“ (2012) bis hin zu dem bahnbrechenden „Wake me Up“ von Avicii (2013). In dieser Liste, die sich noch beliebig erweitern ließe, stellt Lil' Nas' Debüt-Single nur den neusten von unzähligen Einträgen dar.
Dennoch stellt der Song die Gesetze der Branche auf den Kopf. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ein 19-jähriger Rapper, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vorübergehend bei seiner älteren Schwester wohnt und noch keinen einzigen Track veröffentlicht hat, kauft sich im Netz kostengünstig den Loop des 18-jährigen Beat-Programmierers YoungKio aus den Niederlanden, rappt darüber einen Text über Pferde, Traktoren und Cowboyhüte und heimst damit einen hoch dotierten Plattenvertrag, einen internationalen Hit und eine Kollaboration mit dem Urgestein Billy Ray Cyrus ein. Natürlich wäre der Track ohne die tatkräftige Unterstützung des Label-Majors Columbia niemals in vergleichbare Dimensionen abgehoben. Doch ist der Erfolg nicht darauf zurückzuführen, dass die Bonzen bei Columbia die Komposition komplett umgekrempelt hätten. Es ist gerade das Nackte, Nicht-Überproduzierte dieses Songs, der ihm zu seinem meteorhaften Aufstieg verholfen hat.
Flashback in die 90er
Es ist ein Flashback in die frühen 90er, als Schlafzimmermusiker den Markt mit neuen Sounds, neuen Genres und unkonventionell produzierten Tracks aufmischten und ihn damit für immer veränderten. Denn: Lil Nas und YoungKio haben sich niemals persönlich kennengelernt. Vielmehr nutzte Nas einen Beat, den er sich für gerade einmal 30 Dollar von der Webseite des Niederländers heruntergeladen hatte. [1] Es ist ein Modell, das Schule macht. So basieren einige signifikante Hits der vergangenen Jahre auf ähnlichen Zusammenarbeiten: Desiigners „Panda“, zum Beispiel, das auch hierzulande ein Top-20-Erfolg war und den Rapper zu einem Deal mit Kanye West verhalf, oder auch Rich the Kids „Plug Walk“ und Drakes „Blue Tint“. Allen diesen Songs ist gemeinsam, dass sie auf sogenannten „Type Beats“ basieren, die in Online-Stores oder schlicht auf Youtube hochgeladen und kostengünstig lizenziert wurden. Der Begriff „Type“ bezieht sich dabei auf die Methode, mit der diese Loops vermarktet werden: So werden die Beats mit dem Hashtag eines bereits bekannten Rappers versehen, also als Beats im Stile eines 21 Savage, Lil Baby, A$AP Rocky oder Post Malone. Was als ein Nischenphänomen begann, hat sich in kürzester Zeit zu dem vielleicht wichtigsten Wachstumssegment in der Branche gemausert. Das Internet Money Collective, die den Type-Beat-Hype mit ihren Produktionen anfachten, nahm zu Spitzenzeiten nach eigenen Angaben über eine halbe Million Dollar im Jahr alleine mit dem Verkauf von Loops ein. [2]
Wenn man bedenkt, was für einen Sturm die Diskussion um Ghost Producer im Techno ausgelöst hat, ist die Geschwindigkeit, mit der sich Type-Beats im Hip Hop durchgesetzt haben, durchaus erstaunlich. Wohl kein Genre nämlich klammert sich so verbissen an die Maxime der Originalität wie der Rap. Was dem Techno-Produzenten der verhasste Ghost-Producer, ist dem Hip-Hop-Künstler der verachtenswerte „Biter“, der seine Beats an die erfolgreicher Kollegen anlehnt, seine Flows und Ad-Libs bei angesagten Acts „ausleiht“. Sich bei anderen zu bedienen, ist nur dann akzeptabel, wenn die Einflüsse vollkommen offengelegt werden. Wie zum Beispiel, als Cardi B auf ihrem Durchbruchs-Hit „Bodak Yellow“ den Flow von Kodak Blacks „No Flockin'“ übernahm, aber diesen Einfluss im recht offensichtlichen Titel direkt zugab. Bis heute hingegen wird der New Yorker MC That Realest mit Häme überschüttet. Nach dem Tod von Tupac Shakur hatte sich dieser optisch wie auch musikalisch in eine Kopie der Legende verwandelt, sich wie Shakur tattoowieren lassen und seine Texte und Produktionen mit mehr als offensichtlichen Verweisen gespickt. [3] Auch der aktuell angesagte Travis Scott wird von Kritikern immer vorgeworfen, sich in seinem Vortrag und seinen Arrangements immer wieder bei anderen zu bedienen, ohne eine persönliche Sichtweise an zu bieten. [4]
Angebot und Nachfrage
Mit diesen platten Kopien haben Type-Beats aber in den meisten Fällen denkbar wenig gemeinsam. Ihr Erfolg beruht auf einer weitaus einfacheren und recht trivialen Gleichung. Angehende Rapper einerseits haben schlicht einen Bedarf an qualitativ hochwertigen Beats. Produzenten andererseits sitzen oftmals auf einem riesigen Berg an ungenutztem Material. Dass es sich dabei nicht um ein neuzeitliches Phänomen handelt, wird von einer interessanten historischen Anekdote verdeutlicht: Als Quincy Jones zu den Sessions für Michael Jacksons „Bad“ anreiste, hatte er 800 Song-Demos im Gepäck – gerade einmal elf davon schafften es schlussendlich auf das fertige Album. [5] So gesehen sind Type-Beats kein neuzeitliches Phänomen. Dank der Effizienz moderner Produktionsmittel ist der Schaffensprozess seitdem noch um einiges effizienter geworden. An seinen besten Tagen stellte der einflussreiche Underground-Engineer Lex Luger täglich 12-20 Beats fertig. [6] Auch stellt der Verkauf von Beats gerade für Engineers, die noch nicht wie YoungKio einen großen Hit landen konnten, einen lukrativen Nebenverdienst dar. Umso mehr, als eine clevere Lizenzpolitik den Produzenten an zukünftigen Einnahmen ausdrücklich beteiligt. So sah der „Old Town Road“ Vertrag explizit vor, dass die Genehmigung nur für 3,000 Streams auf Spotify galt. Anschließend musste eine neue Lizenz ausgehandelt werden. Auf diese Weise sind einige der Beat-Produzenten selbst zu Insider-Berühmtheiten geworden. Dazu gehört neben YoungKio und dem Internet-Money-Collective-Gründer Taz Taylor vor allem der Shooting-Star der Szene, CashApp. Nachdem er mit seinen Type-Beats ein „hohes sechsstelliges Einkommen“ erreicht hatte, nahm ihn der einflussreiche Manager Steven Victor unter seine Fittiche und arbeitet nun mit dem 26-jährigen am Ausbau seiner Karriere. [7]
Es gibt zwei Gründe, warum Type-Beats kein kultureller Kahlschlag sind, sondern eher eine höchst willkommene Verjüngungskur. Zum einen verschaffen sie Newcomern und finanzschwachen Künstlern Zugang zum so entscheidenden Beat-Markt. Wer nicht durch Glück oder Zufall einen Sound-Magier findet, der ihm passendes Material auf den Leib maßschneidert, war all zu lange automatisch chancenlos. Weil es inzwischen Type Beats aus allen Ecken des musikalischen Spektrums gibt, öffnet sich plötzlich eine ganze Welt aus Klang für ambitionierte Vokalisten. Darüber hinaus sind sich alle Beteiligten letzten Endes darüber einig, dass alleine der Kauf eines Beats lediglich der erste Schritt im Prozess ist. So meint der erfahrene Engineer Jazze Pha: „Viele meinen, dass wenn sie einen Beat erwerben, sie damit gleich eine ganze Produktion erwerben. In Wahrheit aber haben sie wirklich nur das: Einen Beat. (…) Das mag dir schmeicheln, wenn du Beats schraubst. Aber Mercedes Benz kann seinen Kunden auch nicht einfach nur ein Gestell auf den Boden werfen und ihnen sagen: Das wars, jetzt macht ihr das Auto fertig. Ich finde es geradezu beleidigend, wenn du dich einen Produzenten nennst, wenn du in Wahrheit nur Beats machst. Aus einem Beat wird erst ein Song, nachdem wir noch einmal 50% hinzugefügt haben.“ [8]
Es ist in diesem Zusammenhang interessant und bezeichnend, dass nahezu alle erfolgreichen Type-Beat-Macher irgendwann ihre Beschäftigung an den Nagel hängen und stattdessen eine klassischere Produzentenrolle anstreben. Kommerzielle Aspekte scheinen dabei eine eher untergeordnete Rolle zu spielen – schließlich lassen sich mit dem Verkauf von Loops noch immer traumhafte Renditen erwirtschaften. Vielmehr wirkt es eher so, dass die endlose Arbeit im stillen Kämmerchen, bei der, wie Taz Taylor selbst offen zugegeben hat, so mancher Engineer erschöpft zusammenbricht, letzten Endes nicht wirklich erfüllend ist. Gerade weil der Beat im persönlichen Austausch eher ein Funke für den kreativen Austausch darstellt als das fertige Produkt, stellt die traditionellere Kollaboration, bei der alle Beteiligten gemeinsam in einem Raum sitzen, für Viele eine befriedigendere Situation dar.
Lebendiger Underground
Auch Taylor hatte nach dem Abschied von der Beatschmiede eine wichtige Erkenntnis: „Wenn du Beats für einen Online-Verkauf machst, besteht eine Tendenz zum Überproduzieren. Ich habe immer einige Riser und andere Effekte eingefügt um die Strophen und Refrains voneinander ab zu heben. Du stehst im direkten Wettbewerb mit anderen Produzenten, also musst du den Leuten zeigen, dass dein Scheiß verrückter ist als ihrer. Wenn ich in einem Künstler persönlich Material vorspiele, spielt das keine Rolle. Da haben meine Arrangements manchmal nur sechs Instrumente, nicht mehr. Die Künstler wollen auch gar nicht mehr. Sie wollen nur Loops, damit sie darüber schreiben können. Was den Beat zum Song macht ist all das, was du später an kleinen Details herausnimmst oder hinzufügst. Die Basis ist ein ganz konkretes Gefühl, alles andere lenkt nur davon ab.“ Ganz anders bei Type-Beats, bei denen komplexe Beats, irre Einfälle und wahnwitzige Sounds explizit erwünscht sind. Auch „Old Town Road“ basiert ja auf einem Sample eines instrumentalen Albums der Industrial-Meister Nine Inch Nails, das unter konventionellen Bedingungen wohl kaum den Weg ins Studio gefunden hätte.
Wie so oft können Type-Beats auf dem Papier ebenso den Hang zum Generischen zu fördern wie die Lust am Experiment. Weil sie die Tür für Produzenten mit ungewöhnlichen Ideen öffnen und ganz allgemein radikalere Visionen fördern, könnte ihr Einfluss in der Summe eher positiver Natur sein. Sie bilden ein potenzielles Fundament für einen lebendigen Underground und eine bauen eine Brücke zum Mainstream, den sie befruchten und immer wieder mit frischen Impulsen versorgen. Man muss somit keine Angst haben, wenn sich das Modell schon bald, wie zu erwarten ist, auf andere Genres wie Dance ausdehnt. Die Stil-Fusion von „Old Town Road“ mag nicht ganz so erschütternd gewesen sein wie gelegentlich behauptet. Die Songs, die in seinen Fußstapfen folgen, könnten es aber durchaus sein.
Quellen:
[1] https://www.gq.com/story/youngkio-old-town-road-interview
[2] https://www.thefader.com/2019/05/15/nick-mira-taz-taylor-internet-money-interview
[3] https://www.complex.com/music/2014/03/not-a-biter-im-a-writer
[4] https://theconcourse.deadspin.com/travis-scott-is-worse-than-iggy-azalea-1682870003
[5] https://genius.com/a/how-type-beats-have-changed-hip-hop-production
[6] https://www.thefader.com/2018/08/16/lex-luger-flockaveli-2-interview
[7] https://pitchfork.com/levels/how-selling-and-leasing-type-beats-is-making-unknown-producers-rich/
[8] https://genius.com/a/how-type-beats-have-changed-hip-hop-production