Die Weltgesundheitsorganisation hat dem Schlafmangel den Kampf angesagt. Denn zu wenig Schlaf macht uns unausgeglichen und krank. Der Musik soll dabei eine entscheidende Rolle zukommen. Die wissenschaftliche Sichtweise ist dabei allerdings nur ein Aspekt – immer mehr Musiker entdecken das Reich der Träume als Nährboden für eine neue Musik.
Es kann aufregend sein, die ganze Nacht durchzutanzen. Wie es scheint, interessieren sich aber immer mehr Leute für das genaue Gegenteil: Musik, die ihnen dabei hilft, einzuschlafen, tiefer zu schlafen, durchzuschlafen. Eine Suchanfrage auf Spotify oder Youtube liefert im Handumdrehen Tausende von Playlists und Podcasts, darunter so spezifische Zusammenstellungen wie „Sleep Rap“, „ASMR Sleep Sounds“ oder stundenlange Field Recordings von Regenwald- oder Ozean-Klängen. Das Crowdfunding-finanzierte Bluetooth-Kissen Zeeq beschallt Schlafgeschädigte über eingebaute Micro-Lautsprecher mit beruhigenden Sounds. Und Wissenschaftler haben sich auf die Suche nach der entspannendsten Musik aller Zeiten gemacht. Spitzenreiter laut einer aktuellen Studie: „Weightless“ des Ambient-Trios Marconi Union, das laut den Ergebnissen nahezu jeden in das Reich süßer Träume befördern kann. Auch häufen sich zunehmend ambitioniertere Schlafmusikprojekte. So zum Beispiel das plakativ betitelte „Sleep“ des Komponisten Max Richter, das den Hörer acht Stunden lang durch alle Phasen der Nacht begleitet. Richter hat sich für das Projekt nach eigenem Verlautbaren Hilfe von dem angesehenen Neuropsychologen David Eagleman eingeholt. Doch funktioniert die neurologisch untermauerte Musik auch? „Genau genommen haben wir keine Ahnung“, so Richter.
Daran wollen nun einige etwas ändern. Denn die Folgen von Schlafmangel sind verheerend. So besteht ein recht eindeutiger Zusammenhang zwischen einem Schlafdefizit und Übergewicht, unser Gedächtnis funktioniert unter Schlafentzug nicht mehr zuverlässig, motorische Bewegungsabläufe werden unsicherer und unsere Koordinationsfähigkeit nimmt ab, das Immunsystem wird geschwächt, unser Nervensystem überreizt und langfristig werden vitale Werte wie der Blutdruck negativ beeinflusst. Musik wird bei der Lösung als eine Art Geheimwaffe betrachtet. Was vor allem daran liegt, dass einige der Alternativen zwar durchaus effektiv sind, aber teilweise starke Nebenwirkungen aufweisen - darunter so Furcht einflößende Methoden wie die „direkte Gehirnstimulation“ oder die Entspannung des Gehirns mit Magnetfeldern. Andere sind weitaus weniger praktikabel: Zwar ist hinlänglich bekannt, dass schaukelnder Bewegungen ebenfalls zu körperlicher Entspannung und einem besseren Schlaf führen. Allerdings wird nicht jeder deswegen vom vertrauten Bett zur Hängematte wechseln wollen.
Akustische Alarmanlage
Dafür gibt es gute Gründe. Denn obwohl sich immer noch hartnäckig das Gerücht hält, Menschen seien primär visuelle Wesen, ist es doch gerade unser Hörsinn, der uns entscheidende Informationen über drohende Gefahren vermittelt. Das gilt ganz besonders im Zustand des Schlafs, in dem unser Sehsinn ausgeschaltet ist. Unser Ohr aber bleibt über die gesamte Nacht hinweg aktiv. Veränderungen der akustischen Landschaft werden umgehend weitergeleitet, bewertet und entweder verworfen oder als Alarmsignal eingestuft. Dieser sehr ausgeprägte Fokus auf den Hörsinn ist für den Menschen typisch – bei Nagetieren zum Beispiel können Schlafphasen auch durch den Einsatz olfaktorischer Reize, also über Gerüche, beeinflusst werden. Manche Klänge stören unseren Schlaf zuverlässiger als andere. Alarmtöne, die unter anderem in Krankenhäusern eingesetzt werden und von schnell an- und abschwellenden Verläufen gekennzeichnet sind, haben den höchsten Störfaktor und beeinflussen unseren Schlaf sogar dann negativ, wenn sie uns nicht wecken. Andere Klänge hingegen, darunter das Surren eines Hubschraubers, wirkten weitaus weniger disruptiv. Eines jedoch steht fest: Die Schwelle, ab der unser Gehirn sich mit Geräuschen zu beschäftigen beginnt, liegt bei gerade einmal 30db – in diese Kategorie fallen Klangquellen wie Flüstern oder leiser Vogelgesang. Alles, was darüber liegt, kann als potenzieller Gefahrenherd interpretiert werden. Und, wie die Weltgesundheitsorganisation festgestellt hat: Die meisten Schlafzimmer sind weitaus lauter.
Um dieser bedrohlichen Situation etwas entgegenzusetzen, versucht die Neurologie, die verschiedenen Phasen des Schlafs zunehmend genauer zu verstehen. Besonderes Interesse erweckt dabei naturgemäß die so wichtige Phase des Tiefschlafs. In dieser setzen die REM-Träume aus und synchronisieren sich die Neuronen. Wurden Impulse ehemals noch zeitversetzt und in wilden Mustern abgesondert, so stimmen sie sich nunmehr aufeinander ab, bis sie schließlich alle gemeinsam feuern, in konzentrierten Schüben unterbrochen von langen Pausen. Man geht heute davon aus, dass diese Tiefschlafphase eine fundamentale Rolle bei der Verarbeitung von Informationen sowie der Konsolidierung von Erinnerungen darstellt – also genau den Faktoren, die bei vielen Schlafgestörten aus dem Gleichgewicht geraten. Während weißes Rauschen sehr wirksam darin sein kann, störende Umgebungsgeräusche zu filtern und somit für viele Leidtragende eine exzellente Einschlafhilfe darstellt, hat sich das verwandte „Pink Noise“, das als eine natürlichere Variante des weißen Rauschens empfunden wird, als eine hervorragende Methode erwiesen, die Tiefschlafphasen zu stabilisieren. Setzt man Schlafende konzentrierten Impulsen von rosa Rauschen aus, verstärkt sich der Synchronisationseffekt der Neuronen, die nunmehr sowohl konzentrierter und stärker feuern. Und das, so die Hoffnung der Forscher, kann unsere Schlafqualität verbessern.
Kreative Partnerschaft
Dass Musik eine natürliche Verbindung zum Reich Morpheus' hat, war freilich schon weitaus länger bekannt. Schon Bach's „Goldberg Variationen“ wurden der Legende nach ganz bewusst für einen schlaflosen Grafen geschrieben und versetzen einen (im Falle einer guten Interpretation) tatsächlich in den sogenannten hypnagogen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, bei dem unser noch immer rational operierender Verstand plötzlich von non-linearen, scheinbar willkürlichen und verstörenden Sinneswahrnehmungen überflutet wird. So kann es nicht ernsthaft verwundern, dass sich schon recht bald viele Künstler aktiv mit der Frage auseinanderzusetzen begannen, wie sich dieser Zustand aktiv herbeiführen lasse und inwiefern Musik und Schlaf eine kreative Partnerschaft eingehen könnten. Der amerikanische Minimalist Terry Riley war einer der ersten, der Konzerte zu veranstalten begann, welche sich über eine gesamte Nacht erstreckten. Der Einsatz einfacher aber höchst effektiver Technologien wie Bandmaschinen erlaubten es ihm dabei, Spielpausen zu überbrücken und die Länge der Performance auf übermenschliche Länge zu dehnen. An einer Verbesserung der Schlafqualität war ihm zwar ebenso wenig gelegen wie dem Komponisten Morton Feldman. Wer aber einmal Feldman's sieben Stunden langes zweites Streichkonzert oder das sechs Stunden lange „For Philip Guston“ live erlebt hat, weiß, wie sehr einen diese Kompositionen, die danke der Abwesenheit traditioneller Strukturen einen vollkommen unwirklichen Charakter einnehmen, in traumähnliche Welten entführen können. Noch abgefahrener sind Darbietungen von Erik Satie's „Vexations“, bei denen ein kurzes Notenfragment bis zu 840 Mal wiederholt wird und das bei entsprechend langsamem Grundtempo bis zu 48 Stunden dauern kann – vorausgesetzt, der Pianist ist bis dahin nicht selbst entschlafen.
Schlafkonzerte
Keiner hat sich tiefer mit dieser Thematik auseinandergesetzt als Robert Rich. Als einer der Ambient-Pioniere der zweiten Generation, die Brian Eno's ursprüngliche Vision in eine mystisch angehauchte Richtung umdeuteten, erschien Rich die Idee des „Schlafkonzerts“ als ein ganz natürlicher Zielpunkt für das Genre. Ambient in seiner ursprünglichen Form hatte beweisen, wie sehr unterbewusste Impulse unseren Wachzustand beeinflussen können. Wenn Musik also bereits in unserem Wachzustand sehr effektiv sein kann, so Rich, wie stark müsse ihre Wirkung erst sein, wenn wir sie in Bewusstseinszuständen erleben, in denen wir bereits ganz natürlich auf derart hypnotische Klänge eingepegelt sind? Seine ersten Schlafkonzerte fanden in den 80ern statt und bestanden aus einer Kombination aus sich langsam verschiebenden Drones und sehr diskreten Field Recordings. Leider waren die Schlafkonzerte finanziell desaströs – die Konzerträume mussten mit platzfressenden Matratzen ausgelegt werden – und körperlich extrem anstrengend. Als Rich mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, beendete er deswegen das Experiment, legte mit „Somnium“ allerdings vorher noch eine 7-stündige Studioversion der Konzerte vor. Bis heute genießt das Stück Kultcharakter, läuft in manchen Schlafzimmern seit Jahren jeden Abend. Wie Rich bereits bei den Live-Erlebnissen beobachtet konnte, sorgt das Werk weniger für einen ruhigeren Schlaf als für eine Induktion in einen Zwischenzustand, in dem Träume intensiver und klarer erlebt werden, in denen die Wahrnehmung übernatürlich genau ist. Nicht immer sind diese Erlebnisse angenehm. So war auch bei den Aufführungen von Max Richter's „Sleep“ nachträglich oftmals zu hören, dass Viele noch nicht ganz sicher waren, wie sie ihre Erfahrung einzustufen hatten.
Damit scheiden diese Experimente wohl weitgehend aus, wenn es darum geht, die Nacht entspannter zu verbringen. In kreativer Hinsicht hingegen öffnen sich hier extrem spannende Möglichkeiten. So sieht Richter seine Komposition als eine Intervention, die uns aus dem von Zeitdruck und ständigem Datenkonsum geprägten Alltag entführt. Labels wie Slaapwel, deren Katalog sich voll und ganz auf Musik für die hypnagoge Phase konzentriert, schaffen ganze Welten aus stillen Tönen. Und die Erforschung der langen Form führt auch weiterhin zu spannenden neuen Werken und Events – so beispielsweise „Long Now“, ein 24-stündiges Minifestival als Tei der Berliner Märzmusik, bei dem eine komplette Nacht hindurch Konzerte mit betont langsamer und atmosphärischer Musik programmiert werden. Spannend sind diese Experimente jedoch nicht nur, weil sie uns dabei helfen, besser zur Ruhe zu kommen. Sondern auch deswegen, weil sie uns auf die vielfältigen Zwischenzustände unseres Bewusstseins aufmerksam machen. „Diese Musik erzeugt eine dermaßen intensive Stille, dass das Gehirn dazu stimuliert wird, Welten zu errichten“, so Rich, „Wir betreten somit eine vollkommen natürliche halluzinogene Umgebung, genau wie die des Schlafs. (…) Unser Bewusstsein erzeugt ständig die Welt, in der wir leben. Diese Musik ist konstruktiv – und sie wird zugleich immer wieder neu konstruiert.“ Wer früh zu Bett geht, im stillen Kämmerlein schläft und sich aller Reize bewusst entledigt, mag somit seiner Gesundheit etwas Gutes tun. Verpassen tut man dabei aber eben doch etwas.