Mit „The Exhibitionist“ hat Jeff Mills die Kunst des Vinyl-DJings in brillanten Bildern dokumentiert. Zehn Jahre danach legt er mit dem zweiten Teil ein aktuelles Update vor, bei dem die Grenzen zwischen analog und digital, Auflegen und Produzieren sowie Improvisation und Komposition verschwimmen. Beat begab sich mit Mills auf eine Zeitreise – in die noch immer aktuelle Vergangenheit der elektronischen Musik und die mögliche Zukunft des DJings.
Tokyo, 2065 …
… und nur wenige Sekunde danach, mit einem leisen, kaum wahrnehmbaren Ploppen öffnet sich das Wurmloch fünfzig Jahre später, und wir stehen mitten auf der Tanzfläche des Clubs in einem Gewitter aus flackernden Blitzen, flirrenden Sequenzen und pulsierenden Bassdrums und direkt neben meinem Ohr höre ich die Worte „Halt dich gut fest!“ Um uns herum: Tänzer, teils echte Personen, teils Hologramme, ihre realen und virtuellen Körper eingehüllt in leuchtende Datenwolken, die beim Überlappen einen funkensprühenden Informationsaustausch auslösen. Auf einem riesigen, über dem Dancefloor schwebenden Bildschirm flimmert eine Übertragung von einem einsamen Jeff Mills vor seinen Turntables und erst da erinnere ich mich daran, dass ich nicht alleine hier bin. Ich blicke nach rechts und sehe Jeff direkt neben mir, den Blick auf die Tanzfläche gerichtet und ein Lächeln auf den Lippen dank der Erkenntnis: Das DJing hat doch noch eine Zukunft. Erst in diesem Augenblick wird mir klar, was für eine lange Reise ich hinter mir habe und wie sie von einem einfachen Anruf vor fünfzig Jahren ausgelöst wurde. Und kaum erinnere ich mich daran, eilen meine Gedanken schon wieder zurück und meine Hand greift nach einem Hörer und da ist eine Stimme, die durch die Zeit langsam zu mir dringt.
Amsterdam, 30. Juni 2015
„Es war für mich wie eine Befreiung, als ich Jeff Mills zum ersten Mal spielen hörte“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung, „Ich habe seinen Mix im Liquid Room in Tokyo gehört und da war mir klar: Genau das möchte ich auch. Ich möchte so mixen können wie er.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung gehört Rune Kölsch, einem der derzeit angesagtesten DJs der Welt. Kölsch ist gerade in Amsterdam, doch sogar über die Entfernung spürt man, wie wichtig ihm dieses Album ist. Die von ihm angesprochene Performance wurde 1996 unter dem Namen „Mix-Up Vol.2“ veröffentlicht und bleibt eine der un- und außergewöhnlichsten Mix-CDs überhaupt. Der Aufwand, der für das ursprünglich als 3D-Recording geplante Projekt betrieben wurde, war enorm und die Techniker Yoko Ando und Chisato Yoshikawa platzierten sorgfältig im gesamten Club mehrere Mikrophone. Das Endergebnis hingegen klingt schockierend brutal, Mills mixt wie ein Besessener, mit schnellen, radikalen Schnitten und wilden Brüchen. Für Kölsch klang dieses Chaos genau so, wie er sich das DJing immer erträumt hatte: „Ich habe mich monatelang hinter den Turntables verschanzt und versucht schneller zu werden.“ Schneller als Mills aber, der manchmal nicht mal mehr selbst nachvollziehen konnte, was er da tat, wurde keiner. Und so schnell wie in seinen frühen Tagen sollte auch Mills nie wieder sein. Eine Tugend, so werde ich erfahren, die aus der Not geboren wurde.
Detroit, späte 70er
Detroit nämlich, hat Mills einmal gesagt, war eine Stadt, die in viele kleine Nischen aufgespalten war. Innerhalb dieser Nischen gab es ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken und ohne den Willen, der Beste zu werden, standen die Aussichten auf eine Karriere schlecht. Mills' Nische bildete zunächst der Fusion-Jazz, seine Idole waren Billy Cobham und Stanley Clark, eigenwillige Schlagzeuger mit einem ausgeprägten Sinn für Struktur. Mills saß bereits seit der zweiten Klasse hinter den Drums und spielte bis nach dem Abitur in verschiedenen Bands. Eines Tages zeigte ihm sein Bruder, der als DJ arbeitete, wie das Auflegen funktioniert und der junge Jeff erkannte darin mit funkelnden Augen die Gelegenheit, eine Musik zu erschaffen, die über seine Fusion-Jazz-Ambitionen weit hinausging: „Ich hatte durch das Drumming sehr sichere Hände und vor allem hatte ich die erforderliche Kraft in meinen Fingern und meinem Handgelenk. Außerdem habe ich das Prinzip von Rhythmen verstanden. Wenn ich einen Beat hörte, konnte ich verstehen, wie er zusammengesetzt worden war – und wie man ihn wieder auseinander nehmen konnte.“ Rhythmus, so versteht er, ist de- und rekonstruierte Zeit und durch geschickte Manipulation dieser Parameter kann der DJ für die Dauer des Auftritts die Gesetze der traditionellen Physik außer Kraft setzen. Seine Sets lassen den Sekundenzeiger gleichzeitig schneller und langsamer ticken, auf seinem Album „Time Machine“ erprobt er später das Zeitreisen durch Klang. Und ein Vierteljahrhundert nach diesen ersten Erkenntnissen wird Mills die Methode hinter dem Prinzip in der ersten Folge von „Exhibitionist“ mit schonungsloser Ehrlichkeit offenlegen.
„Exhibitionist“, 2004
Als der Film veröffentlicht wurde, hatte die Verklärung von DJs zu geradezu mythischen Wesen einen neuen Höhepunkt erreicht. Während die „Kunst des DJing“ unter dem Einfluss neuer Technologien für das Publikum zunehmend abstrakter geriet, präsentiert sich Mills in der Hauptsequenz des Films eine Dreiviertelstunde lang vor einer komplett schwarzen Wand mit nichts als drei Turntables und seinen Platten. Die verschiedenen Kameras – Frontalansicht, Vogelperspektive und Detailausschnitte – fangen jede seiner Bewegungen minutiös ein, zeigen das Handwerk hinter der Zauberei. Doch noch viel beeindruckender als das Spiel mit Plattenspielern und Mischpult sind die Augenblicke der Zweifelns und Verwerfens, wenn Mills bereits eine neue Scheibe auf den Teller gelegt hat, dann kurz nachdenkt, sie zurücknimmt und sich schließlich für eine andere entscheidet. Was geht in diesen Augenblicken vor, fragte ich mich, was sucht er in der nächsten Platte was die aktuelle nicht hat?
In der Zukunft des Jahres 2015 antwortet Mills mir, in der Bar des Mandala Hotels am Potsdamer Platz, die er gerade aus dem gläsernen Aufzug an der Vorderfront des Gebäudes betreten hat: „Ich habe mir oft einfach eine Platte geschnappt, sie aufgelegt und dann erst gemerkt, dass sie nicht funktioniert“, so Mills. „Heute passiert so etwas nicht mehr so oft, weil die meisten DJs viel genauer wissen, was sie bei einem Gig spielen werden als wir damals. Als ich mit Vinyl gearbeitet habe, habe ich hingegen alles einfach in mein Case geworfen und bin losgegangen. Als ich dann zur Party kam, wusste ich meist gar nicht mehr, wo was war. Ich hatte eine total wüst zusammengewürfelte Musikbibliothek. Aber wenn ich eine ganz bestimmte Platte wollte, habe ich dann beim Suchen etwas gefunden, was noch viel besser war.“ Dieser Suchprozess war ein integraler Teil der Performance und setzt sich bis heute in seinen digitalen Sets fort: Jede CD ist mit leicht kryptischen Bildern oder aus dem Zusammenhang gerissenen Worten beschriftet, manchmal auch nur mit einem, zwei oder drei Ausrufezeichen, die auf Außenstehende eher wie ein Alien-Alphabet anmuten als Aussagen über die Musik. Der absolute Gipfel dieses Alphabets, vertraut mir Mills an, sei ein Smiley: „Damit gerät der Club außer Kontrolle!“ Er lacht und für den Bruchteil einer Sekunde blitzt ein Bild vor meinem geistigen Auge auf: Ein gerade einmal zwanzig Sekunden kurzes Segment mit Jeff Mills aus einer von Electronic-Beats produzierten Richie-Hawtins-Dokumentation aus den 80ern.
Ein Club, irgendwann in den 80ern
Das Bild der Aufnahme ist schlecht und das dunkelblaue Licht der Location kaum dazu geeignet, Details zu erkennen, doch verschlägt einem das Wenige, was man sieht, den Atem. Mills legt in einem aberwitzigen Tempo auf, schmeißt gebrauchte Platten hinter sich, kniet sich für die nächste vor einen riesigen Berg Vinyl und zieht aus dem Stapel unbeschrifteter Scheiben scheinbar aufs Geratewohl eine heraus. In diesen zwanzig Sekunden ist alles enthalten, was ihn als DJ ausmacht und man versteht, warum Mills und die anderen Detroit-Techno-Pioniere Themen aus Science Fiction und Weltraumreisen aufgriffen, auf die Zukunft und auf Zeitreisen verwiesen: Ihre Zukunft war immer genau hier, das Jetzt ein Hase, welcher die Gegenwart dazu anstachelt, schneller zu rennen, und der DJ ist der Wissenschaftler, Zeitreisende und Kosmonaut, der mit seinen Reglern den Soundtrack zu diesen Expeditionen liefert. Es war diese Energie, diese Vision der Dinge, die noch kommen sollten, die Rune Kölsch viele Jahre später später zum DJing bringen wird: „Jeff Mills klang nicht wie eine Maschine, sondern als ob jemand ein Instrument spielt.“ Die Turntables als ein Instrument sind außerhalb des Hip-Hop eine eher unkonventionelle Vision. Doch macht sich Mills schon bald mit beeindruckender Konsequenz an ihre Umsetzung.
Detroit, 1982
Zunächst einmal aber muss er den ersten Schritt wagen. Dieser Augenblick kommt, als sein Bruder das DJing an den Nagel hängt. Jeff übernimmt sein Equipment und bringt sich in wenigen Tagen selbst das Auflegen bei. Danach setzt er alles daran, damit sein oberstes Ziel zu erreichen: Mehr aus der Musik zu machen, als die Klänge, die in eine Schallplatte eingeritzt sind. Die Kunstform des DJings befindet sich noch in ihren Anfängen und die Möglichkeiten scheinen unerschöpflich – Mills erinnert sich gerne daran zurück, dass er zu dieser Zeit viel auf Partys unterwegs ist, auf denen die Musik überhaupt nicht gemixt wird und der DJ zwischen zwei Platten eine mehr oder weniger lange Pause lässt. Der größte Teil der Tracks ist in keiner Weise auf das Auflegen ausgelegt, hat keine Drum-Intros oder Acapellas, keine basslosen Stellen oder Breakdowns. Vielmehr obliegt es dem DJ, die Magie aus den Platten herauszukitzeln. Neben den Clubs ist das Radio das vielleicht effektivste Medium zur Verbreitung der neuen Konzepte. Immer wieder schickt Mills dem lokalen Sender seine Tapes, immer wieder wird er abgewiesen. Bis ein neuer Programmdirektor aus New York nach Detroit kommt. Als er das persönliche Schließfach seines Vorgängers öffnet, fallen ihm die über die Jahre angehäuften Tapes entgegen. Er legt eines ein und erkennt darin den gleichen radikalen Aufbruchsgeist wie bei einigen der führenden DJs in New York. Mills wird zu einem Bewerbungs-Gig eingeladen und angenommen. So wird über Nacht aus dem ambitionierten jungen DJ der „Wizard“ – und aus dem Beruf des Radio-DJs eine innovative Kunstform, bei der von Anfang an Turntables neben Drum Machines stehen.
„Exhibitionist 2“, 2015
Aus den 80ern reise ich in Gedanken für einen Augenblick in die Gegenwart zurück, um einen Blick auf seine aktuelle Veröffentlichung „Exhibitionist 2“ zu werfen, auf der diese Mixing-Perspektive zu einem neuen Höhepunkt geführt wird. Zwei Jahre lang hat Mills daran gearbeitet und den Denkprozess des DJs in immer wieder neuen Konstellationen eingefangen. Eine Session jedoch ist ihm in besonderer Erinnerung geblieben: eine Improvisation mit der Drumming-Legende Skeeto Valdez. Sie findet unter scheinbar ungünstigen Bedingungen statt: Valdez kann nicht lange bleiben, weil er anschließend einen Auftritt hat, und verspätet sich deutlich. Die Zeit reicht gerade noch für eine einzige Aufnahme, ohne vorausgehende Absprachen, ohne nachträgliche Korrekturen. So setzt er sich schlicht auf seinen Hocker neben Mills' Mischpult, die beiden gucken sich an, es geht los und dann, wie aus dem Nichts, passiert es einfach, kommen der Drummer, der sein Leben dem Schlagzeug, und der Drummer, der sein Leben der elektronischen Musik gewidmet hat, zusammen, klinken sich in einen Strom ein, der sich so natürlich anfühlt wie der erste Sprung ins Planschbecken. Besonders beeindruckend die Eröffnung-Szene, als Valdez vorsichtige Akzente mit dem Schneebesen setzt und scheinbar gleichgültig Punkte auf seine Toms und Hi-Hats tupft und Mills ihm auf seinem Mischpult mit korrespondierendem Stumm- und Freischalten von Kanälen kontert. Ist Musik letztendlich doch eine Sprache, frage ich Mills drei Monate vor der offiziellen Veröffentlichung der Performance, ein wortloser Dialog? „Ja, aber aus meiner Sicht ist es besser, wenn die Kommunikation nur in eine Richtung geht. Die beste Art, etwas zu Erschaffen besteht darin, ohne vorgefertigte Meinung in eine Performance zu gehen und dabei nichts von irgendwem zu erwarten. Du präsentierst etwas und dann ziehst du dich zurück.“ Der klar umrissene Moment wird somit zum Ideal: „Ich möchte so viel wie möglich von dem Augenblick einfangen. Wenn mir das 1992 möglich gewesen wäre, hatte ich diese Details in den Track einbauen und später alles wieder abrufen können: Samstag Mittag, drei Uhr auf der zweiten Etage meines Apartments unter der und der Adresse.“ Auch wenn die Musik diesen Anspruch letztendlich nicht erfüllen kann, erinnern sich andere noch ganz genau an jedes Detail dieser Phase seines Lebens. 1992 nämlich ist das Jahr, in dem Mills als junger Produzent mit nicht einmal 30 Jahren als Resident in das Limelight, den vielleicht angesagtesten Club der Elektronik-Welt, berufen wird.
New York, 1990-92:
Als er dort ankommt, wird er von der Leidenschaft der Szene nahezu überwältigt. Das Limelight ist zu diesem Zeitpunkt bereits der Mittelpunkt der amerikanischen House- und Techno-Landschaft und wird knapp zehn Jahre lang eine Kulisse für die exzessiven Partys von Prominenten und Exzentrikern abgeben. Es ist ein Ort, der jeden, der ihn betritt, verändert und auch Mills vollzieht hier eine einschneidende Verwandlung: „Man konnte ihm regelrecht dabei zusehen, wie er in diesen Gigs zu Jeff Mills wurde“, so sein Kollege und Freund Dave Sumner alias Function, und ein Bericht seines jüngeren Kollegen Tiga, der selbst als Teenager ins Limelight kam, bestätigt die unvorstellbare Magie dieser Auftritte: „Ich war ich ganz alleine mit Jeff und dem Licht-Techniker in der Kanzel in der ersten Reihe. Die Erfahrung war so intensiv, dass ich sogar heute noch darüber rede. Er war so unglaublich präzise und konzentriert, so gut und schnell.“ Trotz Präzisionsarbeit und höchster Konzentration gehören Fehler und unsaubere Übergänge zu diesem halsbrecherischen Ansatz dazu: „Einer der Gründe dafür, dass mich Perfektion nicht sonderlich interessiert ist, dass man bei perfekten Mixen nicht mehr den Unterschied zwischen zwei Künstlern erkennen kann. Du kannst nicht mehr fühlen, dass ich es bin“, erklärt Mills. „Für mich ist es weitaus wichtiger, dass ein Mix die Persönlichkeit des DJs reflektiert.“ Interessanterweise werden aber genau diese so einflussreichen Lehrjahre Mills schließlich davon überzeugen, musikalisch einen anderen Weg einzuschlagen. „Es war total verrückt auf diesen Partys. Jeder Auftritt im Limelight hat sich wie eine Explosion angefühlt. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass die Dinge etwas runterfahren musste. Ich zog nach Chicago, um ein House-Label zu gründen, sprach viel mit Rob Hood und daraus entstand schließlich Minimal-Techno.“
Chicago, Tokyo, 1994-96
Es ist nicht nur seine Liebe für House, die ihn nach Chicago und in neue kreative Gewässer gelotst hat, wie mir Mills in der Hotelbar berichtet, während im Hintergrund belanglose Chillout-Musik auf unser Gespräch nieder rieselt und ich mir einen weiteren Kaffee bestelle. Vielmehr wurden Konzepte – oder, um es in seinen Worten auszudrücken: „Absichten“ – zunehmend wichtiger. Als ich ihn auf den für Rune Kölsch so wichtigen Mix im Liquid Room anspreche, erinnert er sich noch daran, als habe er ihn erst gestern aufgenommen. Dass die CD so gnadenlos und unpoliert klinge, habe keinerlei technische Hintergründe gehabt, sondern sich vielmehr aus der dahinter stehenden Idee ergeben: Man habe bei dieser Aufnahme gar nicht den Mix einfangen wollen, sondern vielmehr die Reaktion des Publikums. Nicht der DJ stehe hier im Mittelpunkt, sondern die Tänzer, ihre Emotionen und Empfindungen. So habe man die Mikros auch ganz gezielt hinten in den Raum gestellt, weit weg vom Pult, dort, wo getanzt wurde. Es soll nicht das letzte Beispiel für eine radikal umgesetzte Idee bleiben. „Purpose Maker“, welches heute als eines von Mills wichtigsten Projekten gehandelt wird, kommt nur auf den Markt, weil sich DJ Hell irgendwann nach einem sensationellen Track erkundigt, den er bei einem Gig gehört hatte. Bis dahin hatte Mills sich nicht einmal mit der Frage beschäftigt, die Musik der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen: „Manchmal ist es aus meiner Sicht wichtiger, einfach nur die Idee zu haben und sie gar nicht erst umzusetzen.“ Auch „Cycle 30“ blieb lange nur Vorstellung: Eine Zusammenstellung von Loops, die ohne die lenkende Hand des DJs eigentlich überhaupt keinen Sinn macht. Nicht nur haben diese Tracks keinen Anfang und kein Ende, sie haben auch keine feste Form – sie sind nicht so sehr kreative Einfälle, sondern kreative Chancen, die jeder DJ für sich in Anspruch nehmen kann. Das Ergreifen dieser Chancen ist bis heute der eigentliche Inhalt von Mills' DJ-Sets geblieben.
„Exhibitionist 1/2“, 2004/2015
Dennoch haben sich die Ergebnisse über die Jahre gewandelt. Es ist faszinierend, denke ich, während ich zwischen dem ersten und zweiten Teil des „Exhibitionist“ hin- und herschalte, zwischen den Jahren 2004 und 2015, dass der neue Teil einem nicht nur vertrauter vorkommt, sondern auch weniger futuristisch. Man ist näher am älteren Jeff Mills als am jüngeren, vielleicht auch, weil der ältere einem nicht nur vermittelt, wie er es macht, sondern warum. Ebenso wichtig erscheint es aber, dass der erste Film mit geradezu gespenstischer Sicherheit genau am Ende einer Ära aufgenommen wurde. Im Erscheinungsjahr präsentierte Pioneer mit dem CDJ-2000 ein Produkt, dessen Einfluss dem der legendären Technics 1200er Turntables um nichts nachsteht: „Als es noch keine CDJs und Loop-Buttons gab, musstest du ganz genau darüber bescheid wissen, wie viel Zeit dir noch bis zur nächsten Platte bleibt und wann der Break kommt“, so Mills. „Dein Timing wird dadurch besser.“ Doch nicht nur Technik und Timing ändern sich. Die Szene teilt sich in eine Analog- und Digital-Fraktion, der Laptop wird zur neuen Schaltzentrale. Mit „Exhibitionist 1“ beendet Mills die Vinyl-Phase, doch indem er sich so nackt wie nie zuvor präsentiert, rettet er ein Stückchen der alten Ideale in die neue Zeitrechnung hinüber. Sein Ansatz, sich nicht mehr hinter der Technologie zu verschanzen, wird schon bald allerorten aufgegriffen, unter anderem im ungemein erfolgreichen „Boiler Room“, bei dem der DJ mitten zwischen den Tänzern steht. Wenn der erste Teils jedoch treffsicher das Ende einer Ära festhielt, gilt dann möglicherweise für den zweiten das Gleiche? Und falls ja, was kommt danach: Ein neuer Ansatz im DJing – oder vielleicht gar das Ende der Kunstform? Für die Antwort zieht es mich ein letztes Mal zurück in die Zeit, zu den Hackesche-Höfe-Kinos und der Europa-Premiere von „The Man from Tomorrow“.
Berlin, 21. Januar 2014
Gerade habe ich den Saal wieder verlassen und stehe mit unzähligen anderen Gästen mit Getränken in der Hand im Foyer. So richtig will sich kein Gespräch einstellen, vielmehr scheint die Versammlung vereint in Sprachlosigkeit angesichts der visuellen und klanglichen Wucht dieser Dokumentation, die wie eine Kunstinstallation wirkt und mit einem Soundtrack ausgestattet ist, der den Bildern die Schau stiehlt. Vor zwei Jahren hat Mills' Label Axis eine Compilation veröffentlicht, die eher ästhetisches Objekt als Tonträger ist und kurz danach hat sich Mills von seinem Pseudonym „The Wizard“ verabschiedet, dessen eklektischer Ansatz immer mehr für Verwirrung zu sorgen schien. Es zeichnet sich endgültig ab, dass dieser Mann von morgen keine Zukunft mehr für das Auflegen sieht – und auf keinen Fall in der Vergangenheit leben möchte. In der Gegenwart des Jahres 2015 spreche ich Mills darauf an und frage ihn, was wohl passieren würde, wenn man den perfekten Roboter erfinden würde, der Mills' spezifische DJ-Technik als Software abgespeichert, einen unendlichen Katalog an Musik zur Verfügung habe und darüber hinaus noch die Befindlichkeiten und Erwartungen des Publikums über spezielle Sensoren ertasten könne. „Dann wäre ich arbeitslos“, gibt er unumwunden zu. „Denn ein solcher Roboter wäre schlicht und ergreifend besser als alles, was ein Mensch erreichen kann.“ Technisch umsetzbar wäre diese Vorstellung heute bereits – doch ist sie tatsächlich so attraktiv? Schließlich gibt es da noch diese Bemerkung aus meinem Telefonat mit Rune Kölsch: „Jeff Mills klang nicht wie eine Maschine, sondern als ob jemand ein Instrument spielt.“ In Wahrheit scheint genau dieser Anspruch heute relevanter denn je. Wenn man genau darüber nachdenkt, ist Mills nicht so sehr mit der Zeit oder ihr voraus gegangen, sondern hat sich immer wieder geschickt außerhalb von ihr positioniert. Die Drum Machine, ein Relikt aus einer anderen Epoche, überbrückt bei ihm die Distanz zwischen DJ-Gig und Live-Performance, zwischen ausproduziertem Track und spontaner Improvisation, zwischen Werkzeug und Instrument, zwischen Mechanik und Mensch. Bei seinen ersten Radio-Gigs war sie bereits revolutionär, doch in der spektakulären, punkigen 909-Session auf „Exhibitionist 2“ hat sie nichts von dieser utopischen Kraft eingebüßt. Genau da wird mir bewusst, dass es stimmt: Die Mittel sind irrelevant, solange der Mensch dahinter erkennbar wird – und die Zukunft machen wir selbst, nicht die Maschinen. Ich verabschiede mich von Kölsch und lege auf. Kurz danach verabrede ich ein Interview mit Mills.
Jeff Mills - Berlin, 7. August 2015
So sitzen wir irgendwann dann zusammen und es ist gerade einmal eine Stunde vergangen, doch es kommt mir vor, als sei ein ganzes Leben vorbeigezogen. Bevor sich das Interview dem Ende neigt erinnert sich Mills mit sichtbarer Freude an ein spannendes Experiment in Tokyo, bei dem seine DJ-Kanzel in einem anderen Raum als dem eigentlichen Dancefloor untergebracht war und er die Bewegungen der Besucher nur über einen winzigen Monitor beobachten konnte. Was bleibt von dem DJ-Erlebnis, wenn der DJ gar nicht mehr dabei ist? Wenn er und das Publikum nicht mehr interagieren, wenn die Kommunikation wirklich nur noch in eine Richtung geht? Würde es immer noch funktionieren, wenn man die Aufnahme dieses Experiments in genau 50 Jahren für ein Publikum in der Zukunft abspielen würde? Eigentlich, denke ich, nachdem die letzten Worte gesprochen sind, müsste es dem erfahrenen Zeitreisenden Mills doch möglich sein, das Ergebnis persönlich zu überprüfen. Und dann passiert etwas, für das es weder eine Erklärung, noch einen Beleg auf meinem Rekorder gibt. Vielleicht ist es auch nur eine dieser Ideen, die niemals verwirklicht wurden, aber als Gedankenspiel ihre Gültigkeit behalten. Vielleicht aber habe ich ihm ja wirklich vorgeschlagen, gemeinsam in die Zukunft zu reisen, um uns den Club des Jahres 2065 anzusehen. Vielleicht hat sich tatsächlich über unserem Tisch, nur wenige Zentimeter über den Kaffeetassen, ein Wurmloch geöffnet, in das wir hineingestiegen sind, Jeff zuerst und dann ich, mit dem linken Bein voran. Und dann war da tatsächlich irgendwann ein kaum wahrnehmbares Ploppen, als sich das Loch wieder schloss, und das ferne Echo von Worten, die bereits aus der Zukunft zu mir dringen: „Halt dich gut fest!“ …
Dieser Artikel ist in der Heft-Ausgabe 120 erschienen.
Diskographie Jeff Mills (Auswahl):
1992 | Waveform Transmission Vol. 1
1996 | Mix-Up Vol. 2
1996 | Purpose Maker Compilation
2000 | The Art of Connecting
2001 | At First Sight
2001 | Time Machine
2004 | Exhibitionist
2004 | Blue Potential
2009 | Sleeper Wakes
2010 | The Drummer 26
2012 | Something in the Sky
2013 | Jungle Planet
2015 | Man from Tomorrow
2015 | Exhibitionist 2