Benzodiazepine und synthetische Opioide sind die Drogen der Stunde – und Trap ist ihr offizieller Kanal. Über ihn besingt die Szene Exzesse und spricht Warnungen aus. Auch in Deutschland gewinnen Mittel wie Tilidin an Beliebtheit. Bis jetzt hat noch keiner die Musik verantwortlich gemacht. Leider ist das gar keine gute Nachricht.
Der amerikanische Hip-Hop bleibt das Maß aller Dinge. Und so imitieren deutsche Rapper ihre amerikanischen Vorbilder nicht nur, wenn es um Beats, Texte und Sounds geht. Sondern genauso im Hinblick auf die Wahl ihrer liebsten Rauschmittel. Gerade schwappt eine Welle an Substanzen an unsere Ufer, die in den USA bereits seit langem als die neuen Sterne am Drogen-Himmel gelten. Sie werden unter so wohlklingenden Produktnamen wie Xanax, Valium, Percocet und Halcion vertrieben und obwohl sie in Deutschland gewiss keine Breitenbeliebtheit erreicht haben, nimmt ihre Nutzung rapide zu. Die Wirkung dieser „Benzodiazepine“ haben Capital Bra und Samra in ihrer Hymne „Tilidin“ treffend beschrieben. Dort heißt es: „Paar Tropfen Tili, seh' den Film an mir vorbeifahren, lieber Gott, ich fühle mich so einsam / Gib mir Tilidin, ja, ich könnte was gebrauchen.“ Die Wirkung von Tilidin – Angst zu nehmen, Einsamkeit zu lindern und Schmerzen zu mildern – kennt man bereits von „klassischen“ Substanzen wie Heroin. Und doch: Diese Generation von Drogen ist anders.
Tilidin nimmt eine ganz besondere Stellung ein. Und zwar insofern, als es sich hierbei um einen deutschen Sonderweg handelt. In den USA zum Beispiel spielt der Wirkstoff kaum eine Rolle. Im Grunde genommen aber unterscheidet er sich kaum von weitaus bekannteren Produkten. Tilidin ist, im Gegensatz zu Xanax & Co, kein „Benzo“, sondern ein synthetisches Opioid. Von ärztlicher Seite aus wird es aber gerne gegen ähnliche Symptome verschrieben: Panikattacken, Beklemmungszustände, Angststörungen, innere Unruhe und Schmerzen. Auch, wenn man nicht jeden Tag in der Zeitung von ihnen liest, sind Benzos und Opioide längst kein Nischenphänomen mehr. In der US-Serie „Homeland“ spielt Claire Danes die CIA-Agentin Carrie Mathison, die unter biopolarer Störung leidet und ihre Symptome, mal mehr mal weniger erfolgreich, mit dem Benzodiazepin Clonazepam (Markenname: Klonopin) unter Kontrolle zu bekommen versucht. Dass sich über acht Staffeln hinweg so viele mit dieser schwierigen Hauptperson identifizieren konnten, spricht Bände darüber, wie sehr die unterliegenden Symptome, wenngleich in abgeschwächter Form, im Mainstream angekommen sind.
Musik als Frühwarnsystem
Wie so oft war es nicht Hollywood, sondern die Musikindustrie, die als Frühwarnsystem fungierte. Schon seit über zwei Jahrzehnten setzt sich Hip-Hop textlich und praktisch mit Benzodiazepinen und Opioiden auseinander und erreicht damit ein riesiges, junges Publikum. Samra und Capital Bra beispielsweise setzten von „Tilidin“ fast eine halbe Million Einheiten ab und landeten einen Tripple-Nummer-1-Hit in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Spätestens seitdem ist die Substanz unter Jugendlichen kein Fremdwort mehr.
Doch beginnt die Geschichte bereits Mitte der 90er und in Houston, Texas. Dort schraubte DJ Screw an einem ultimativ entschleunigten Musikstil namens Chopped n Screwed, der so träge und schleppend daherkommt, dass Vorreiter wie Trip Hop im Vergleich wie Speed Metal anmuten. Alles lief in Screws Tracks langsamer: Die Beats, die heruntergepitchten Vocals, die Zeit an sich. Screw reduzierte das Tempo angesagter Rap-Tracks, bastelte an den Lyrics und Arrangements, fügte eigene Raps hinzu oder lud Freunde ins Studio ein. So dehnte er seine Remixe auf bis zu zehn hypnotische Minuten. Es ist ein Konzept, das zunächst krude klingt, einen aber schon bald immer tiefer hineinzieht und von dem einige meinen, es habe nur hier in Houston entstehen können, einer Stadt, in der es neun Monate im Jahr Sommer ist. Doch auch die Rauschmittelkultur der Stadt hinterließ ihre Spuren.
Die Lieblingsdroge der Szene war Lean, auch „Purple“ genannt, ein halbflüssiges, halbfestes Getränk aus hochdosiertem, codeinhaltigem Hustensaft, Sprite und Bonbons. Lean wird traditionell in zwei ineinandergesteckten Styropor-Bechern („Double Cup“) serviert, die dafür sorgen, dass der süße Drink länger eiskalt bleibt und transportiert ein unglaublich entspanntes und weiches Gefühl, so, als sei die Welt in Watte gekleidet. Schmerzen nimmt man kaum noch wahr, Sorgen werden erträglich. Damit ähnelt es Tilidin, das weniger für „Euphorie“ oder „Entspannung“ sorgt, sondern eher eine Art „Abseits“ erzeugt.
Der Absturz
Nun kommt nach jedem Hoch notgedrungen auch ein Absturz. In manchen Fällen sogar auf dem selben Album. Nach dem Charts-Erfolg mit „Tilidin“ rappte Capital Bra auf dem Track „Lieber Gott“: „Ich wache schweißgebadet auf, werd' von Alpträumen verfolgt / Para und Erfolg, Leute sagen, bei mir läuft, Doch meine Sinne sind betäubt / „Tilidin“ ist Gold, doch ich hasse dieses Zeug / Ich hab's genomm'n und hab's bereut, lasst die Finger von dem scheiß sein.“ Auch in der aktuellen Single von Bonez MC, „Tilidin Weg“, werden die dunklen Seite der Wirkungspalette beleuchtet. Im Video imitieren Bonez und seine Mit-Tänzer die Untoten aus Michael Jacksons „Thriller“ und drücken damit das Zombie-Gefühl aus, hipwas Viele bei der Nutzung von Tilidin erleben. Bei Lean war der Absturz besonders schmerzhaft. Eine der Wirkungsachsen von Codein ist die Atmung. Als Hustenunterdrücker entwickelt, senkt der Stoff die Herz- und Respirationsfrequenz, bei sehr hohen Mengen oder einer Kombination mit ebenfalls kreislaufsenkenden Substanzen wie Alkohol können sich daraus lebensbedrohliche Atemaussetzer entwickeln. Benzos wirken letzten Endes identisch, weswegen Carrie Mathison in einer dramatischen Episode von „Homeland“ versucht, sich mit einer Kombination aus Tabletten und Weißwein um zu bringen. Während Mathison im Fernsehen überlebt, war das echte Leben weniger gnädig: DJ Screw verstarb 2000 an einer Codein-Überdosis. Es war eine Warnung, auf die keiner hören wollte. Chopped and Screwed alleine wurde nicht zum Massenphänomen, doch beeinflusste es maßgeblich die Geburt von Trap, einer neuen Musikrichtung, die den texanischen Underground-Sound massentauglich machte. Sie sollte das Codein-Lebensgefühl aus Houston in die ganzen Welt hinaustragen.
Vom Traum zum Alptraum
Chopped n Screwed stand für ein leicht psychedelisches und verträumtes Weltbild. Als ich vor knapp zehn Jahren mit dem Pionier DJ Cam in Paris über diese Musik sprach, die ihm sehr am Herzen lag, erzählte er mir lachend davon, dass seine Mutter einige DJ-Screw-Tracks liebte, weil sie so friedlich und schön seien – freilich, ohne die von „Bitches“ und „Hoes“ überladenen Texte zu verstehen. Im Trap hingegen wurde aus der wohligen Lockerheit ein klanggewordener Alptraum. Einer der großen Hits des Genres, Futures „Mask Off“, geriet zur Blaupause: Ein zeitlupenhaftes Flötensample, tonnenschwere Bass-Schauer, müde rasselnde Hi-Hats und darüber Futures seltsam unbeteiligte Stimme entwarfen ein Bild von einer apokalyptischen Unterwelt. Der Refrain bestand passenderweise hauptsächlich aus den Worten „Molly Percocet“, was für die Kombination aus MDMA (auch als „Molly“ bezeichnet) und dem Benzo Percocet steht. Der konsequent in jeder Textzeile eingesetzte Autone verstärkte das Element der Entmenschlichung noch. „Mask Off“ und das zugehörige Album trafen den Nerv der Zeit - was dazu beitrug, das die Botschaft ein Massenpublikum erreichte. Schon bald wurde das Schlucken von Benzos und Opioiden auf Parties zum Standard-Ritual, und eine ganze Generation an Rappern flirtete mit dem, was die Podcasterin Nadira vom Youtube-Kanal „Die Schnibis“ als den „Trap-Lifestyle“ und „die Schönheit des Kaputten“ bezeichnet hat. [https://www.youtube.com/watch?v=7Dpww7j2PhM]
Entziehen konnten sich dieser Schönheit nur wenige. Doch war sie nicht so glamourös wie zu den Hochzeiten von Kokain und Heroin. Der Umgang mit Benzos war vielmehr geradezu verspielt. Er war ehrlich und ungeschönt - vertuscht oder im Backstage-Bereich versteckt wurde hier nichts. In einem seiner bekanntesten Videos versuchte die ehemals große Trap-Hoffnung Lil Peep, sich die Tabletten direkt aus dem Fläschchen in den Mund zu schütteln, ganz so, als seien es Smarties. Einige seiner Kollegen, wie Lil Xan (Xanax) oder Joey Purp (eine Anspielung auf die lila Farbe von Lean) benannten sich gleich nach ihren liebsten Benzos. Nur einmal gewährte Peep seinen Hörerinnen einen Blick auf die Dunkelheit hinter der Maske. „Ich brauche Hilfe“ textete er, kurz nachdem er eine beängstigend hohe Dosis Alprazolam und Fentanyl geschluckt hatte. Wenige Stunden danach war er tot. Nur ein Jahr später folgte ihm Mac Miller, das mit fünf Top-5-Alben in knapp über einem Jahrzehnt vielleicht prominenteste Benzo-Oper. Sie sollten nicht die einzigen bleiben. Die Liste der an einer Überdosis Verschiedenen ist lang und reißt bis heute nicht ab. Und auch, wenn Future sich nach der zunehmenden Zahl an Jugendlichen, die mit Opioid-Sucht zu kämpfen haben, öffentlich dazu bekannt hat, die Drogen nicht mehr in seinen Songs zu glorifizieren, bleibt er damit die Ausnahme. Der Fluch der Beruhigungsmittel scheint nicht abbrechen zu wollen.
Benzos tun, was sie sollen
Dafür gibt es freilich einen einfachen Grund, den Vic Mensa in der Dokumentation „Bars“, die sich spezifisch mit den Folgen des Benzo-Missbrauchs auseinandersetzt (das Wort „Bars“ ist ein Wortspiel, das sich ebenso auf die als „Bars“ bezeichneten Textblöcke im Rap bezieht als auch auf die Form von Xanax-Tabletten, die einer Tafel (bar) Schokolade ähneln) folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Die Drogen tun das, wozu sie entwickelt wurden: Sie stumpfen dich ab und sie machen dich abhängig.“ [https://www.youtube.com/watch?v=oGuEXrc7PPY] Und genau diese Stumpfheit suchen derzeit Viele. Die Zahl an Jugendlichen mit Angststörungen nimmt auch in Deutschland erschreckend schnell zu und in den USA kämpfen 20% der Bevölkerung mit chronischen Schmerzen. [https://www.theatlantic.com/health/archive/2019/12/yes-you-can-overdose-gabapentin/603208/] Im Zweifelsfall ziehen die Betroffenen Xanax einem Leben in Angst und Schmerzen vor. Wenn also in der Suchthilfe oder von offizieller Seite aus gewarnt wird, viele Jugendliche verstünden den Unterschied zwischen Drogen und Medikamenten nicht, dann gibt es dafür einen einfachen Grund: Es gibt gar keinen Unterschied. Letzten Endes verschreiben sich Nutzer selbst genau die Substanz, die ihre Sorgen und Schmerzen am effektivsten lindert. In der Folge werden sie konsequenterweise dann auch von genau den Symptomen heimgesucht, die „richtige“ Patienten plagen: Abhängigkeit, zunehmende Toleranz und teilweise ein verstärktes Auftreten genau der Symptome, weswegen sie ursprünglich mit der Nutzung angefangen haben.
Es ist bemerkenswert, dass sogar in den USA, wo immer wieder gerne der Musik die Schuld für alle Übel der Welt in die Schuhe geschoben wird, bis heute keine Stimme laut geworden ist, die Sanktionen gegen die Trap-Szene gefordert hat. Stattdessen müssen sich die Pharma-Konzerne dafür rechtfertigen, potentiell abhängigmachende Medikamente entwickelt und all zu freizügig in Umlauf gebracht zu haben. Sollten die Kläger erfolgreich sein, wird das Auswirkungen auf die gesamte Pharma-Industrie haben. Das ist eine gute Nachricht für diejenigen, deren Leben durch ihre Abhängigkeit von Benzos oder Opioide zerstört wurde und weiterhin wird. Dahinter steckt aber auch eine traurige Einsicht: Es wäre schön zu glauben, dass wir unsere Dämonen alleine durch das Hören und Produzieren von Musik austreiben könnten, dass Musik tatsächlich eine heilende Kraft besitzt. Darauf, so scheint es, will sich aktuell keiner mehr verlassen.