Als Produzent und Engineer reichen Jan Wagners Referenzen von Freejazz-Experimenten über Berghain-Techno und die aktuelle Judith-Holofernes-Platte. Auf seinem Debüt-Album als Musiker erzeugt er hingegen eine magisch-geschlossene Stimmung, eine Welt aus Klavier, Elektronik und ganz viel Raum. Dabei hatte er lange nichts zu sagen.
Ein Interview mit Jan Wagner ist wie ein Besuch bei einem guten Freund. Er versorgt einen mit mehr Kaffee, als man wahrscheinlich trinken sollte. Zeigt einem, wie man sich in die bequemen Sitzsäcke im Aufenthaltsraum fallen lassen kann. Man redet anderthalb Stunden über Musik und am Ende heißt es dann: „Ach, du musst schon gehen?“ Man erwartet von so jemandem ein gewisses Harmoniebedürfnis. Konflikten aber geht Jan nicht aus dem Weg. Weder bei seiner Arbeit als Produzent noch beim Abmischen von „Nummern“, seinem ersten Solo-Album, für das er bewusst so viele fremde Ohren wie möglich zurate gezogen hat. „Jeder Streit führt einen letzten Endes wohin“, meint er und nimmt noch einen Schluck Kaffee. „Ganz besonders im Studio unten. Du bist da mitten auf dem Land und die Bands müssen sich plötzlich zwei Wochen lang nur mit Musik und den Kollegen auseinandersetzen.“ Er stellt die Tasse neben sich ab. „Das ist ein Hexenkessel.“
Befreit von Regeln
Wenn Jan von „unten“ spricht, dann meint er das Faust-Studio im baden-württembergischen Scheer. Auch wenn er inzwischen nach Berlin gezogen ist, bilden dessen Räumlichkeiten in gewisser Weise noch immer seinen kreativen Lebensmittelpunkt. Hier, in diesem beeindruckenden Gebäude mit seinem fast 200m2 großen Aufnahmeraum und einer neun Meter hohen Decke, hat auch seine Laufbahn als Produzent begonnen, zunächst einmal sehr unauffällig mit einem Praktikum. Jan wohnte damals in dem nur zehn Minuten entfernt gelegenen Sigmaringen und erfuhr über einen Schulfreund, dass ein gewisser Hans-Joachim Irmler hier, abseits der großen Metropolen, einen eigenen Studiokomplex aufgebaut hatte. Ohne sich Irmler's Status als Krautrocklegende voll bewusst zu sein bewirbt er sich, wird angenommen und darf bei den Sessions zu dem neuen Album von Irmeler's Band Faust dabei sein. Das Erlebnis wird sein Leben verändern: „Ich habe in dem Augenblick erkannt, dass Musik viel mehr ist, als das, was im Radio läuft. Dass man nicht immer reinpassen muss. Es war das exakte Gegenteil von dem was ich erwartet oder für gut befunden hätte.“ Genau aus diesem Grund aber wird es ihn von allen Regeln befreien und neue Türen öffnen.
Heute treffen wir uns im Hitipapa-Studio in Kreuzberg. Mit seinem kleinen, intimen, mit Instrumenten vollgestopften Recordingbereich, ist es das genaue Gegenteil des Faust. Hier arbeitet Jan an einer Vielzahl von Projekten, die scheinbar nur sehr wenig miteinander gemeinsam haben: Dem Debüt der experimentellen Künstlerin Rosa Anschütz zum Beispiel, einem Album, das die beiden ganze zwei Jahre lang in aller Ruhe und mit viel Mut zum Experiment realisiert haben. Oder der aktuellen Solo-Scheibe der ehemaligen Wir-sind-Helden-Frontfrau Judith Holofernes, einer bunten, vielseitigen Produktion, bei der im Studio die kreativen Funken sprühten und auch schon mal die Fetzen flogen. Seine Hingabe für diese Projekte ist vollkommen („Wenn ich nach zehn Stunden im Studio nach Hause komme, klappe ich meinen Laptop auf und dann geht es erst richtig los“, bekennt er sich zu seinem Workaholismus). Sowohl in Berlin als auch in Scheer ist er darüber hinaus ganz nah bei den Künstlern, setzt nicht nur ihre Visionen technisch um, sondern versucht sie mit zu formen und manchmal auch durch sanfte Provokation heraus zu kitzeln. Gelernt hat er diesen Ansatz von Irmler, den er als einen „Zuhörer-Produzenten“ bezeichnet: „Er hat sich eine direkte Leitung von der Regie in den Aufenthaltsraum und die Küche legen lassen. Eigentlich ist er den ganzen Tag nur am Kochen. Aber er hört alles, was die Musiker reden. Und dann schlappt er in den Raum und lässt einen Satz fallen, der die Menschen so beeinflusst, dass sie plötzlich ihre Hürden überwinden können.“
Etwas muss nach draußen
Gerade hat Jan selbst eine große Hürde überwunden und mit „Nummern“ zum ersten Mal Musik unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. Dass er sich so lange Zeit gelassen hat, liege schlicht daran, dass er nicht das Gefühl hatte, etwas zu sagen zu haben. Das ändert sich aber, als er im März 2016 plötzlich die Idee für ein Pianostück hat. In dem Aufnahmeraum des Faust-Studios, mit seiner berauschenden Klangästhetik, hatte er den idealen Ort, sie umzusetzen. Er merkt schon bald, dass sich etwas aufgestaut hat, was nach draußen muss. In den nächsten Monaten kommen immer mehr Stücke hinzu, bis er schließlich, im Dezember, feststellt, dass er ein vollständiges Album hat. Geplant war davon nichts, was man den extrem reduzierten Instrumental-Stücken auch anhört. In ihrer Zwischenwelt aus Improvisation und Komposition, aus Traum und Wirklichkeit und dank der dominierenden Rolle des Klaviers erinnern die Tracks noch am ehesten an Nils Frahm's „The Bells“. Doch durch den Einsatz von Elektronik, mal in der Form hymnischer Leads, mal als gravitätisch pulsierende Sequenzen, erforscht „Nummern“ ein ganz eigenes Feld, abseits einschlägiger Kategorien wie „Neoklassik“. „Ambient“ oder „Elektronica“. Es ist Musik zum Sich-Fallenlassen, Musik wie ein Flüstern aus einem verriegelten Raum, dem man mit einem an die Tür gepressten Ohr lauscht.
Entstanden sind nahezu alle Stücke aus dem Augenblick heraus ohne eine vorher festgelegte Struktur. Um ihnen diese mysteriöse Aura nicht zu nehmen, hat Jan ihnen deswegen auch anschließend keine Titel gegeben, sondern sie schlicht alphabetisch durchnummeriert, von „A“ bis „N“ - der Hörer ist dazu aufgefordert, die Musik im Kopf selbst zu vervollständigen. Ein Hauch von Sinnlichkeit umweht die Tracks, die nahezu alle auf ersten Takes basieren, in denen die Spannung noch spürbar, das Risiko des Scheiterns real ist: „Es kommt immer wieder vor, dass die Aufnahme läuft und man erkennt plötzlich: „Das ist es!“ Diese Augenblicke sind für mich das Ultimum. Und wenn das passiert, dann möchte ich diesen Moment auch so lassen. Denn genau dieser Moment ist das, was uns am Ende bewegt und was Musik ausmacht.“ Gefeilt hat er trotz dieser magischen Momente natürlich dennoch an den Aufnahmen. Schließlich bereite ihm jeder Aspekt des Prozesses Freude: „Wenn einer mich fragt, was ich mache, dann sage ich einfach nur: Musik. Die Energie, die beim Aufnehmen anderer Künstler herrscht, ist eigentlich mein Lieblingsding. Weil man sich ein bisschen zurücknehmen aber auch einbringen und man jemanden aus seiner Schale raus heben kann. Beim Mischen ist das Spannende, das ich nur Files bekomme und nichts von dem Produktionsprozess weiß. Immer wieder irgendwo ein zu steigen und seine Farben ein zu bringen - das ist spannend.“
Verantwortung abgeben
Damit „Nummern“ möglichst farbenfroh wird, hat er aber auch viel Verantwortung abgegeben. Sein Kollege James Varghese, bekannt von der Synthie-Dreampop-Band Odd Beholder, hat einige Stücke dezent angepasst, manchmal auch radikaler eingegriffen, ohne dabei jemals die ursprüngliche Vision aus den Augen zu verlieren. Und Christian Gubalke von den Loft Tonstudios hat gemastert. Dabei offenbarten sich durchaus abweichende Präferenzen, vor allem, was den extrem präsenten Bass anging. Schließlich blieb der Bass so, wie er war. Jan lacht: „Die Leute, die eine Anlage haben, die das wiedergeben kann, freuen sich dann, wenn es warm ums Herz wird“.
Vielleicht stammt die Begeisterung für die tiefen Frequenzen ja auch von einer überraschenden Nebenkarriere als Mixing-Engineer für Underground-Techno. Natürlich spiele die eigene Ästhetik dabei noch eine Rolle. Wenn er aber Techno abmische, dann mit sehr betonten Tieffrequenzen und für die großen Hallen. Da er viele Acts des Ostgut-Ton-Labels betreut, genießt er das Privileg, die Musik auf dem Dancefloor des Berghain abhören zu können. Dort, in der Mitte dieses beeindruckenden Raums müsse die Musik dann so klingen, dass es einen komplett wegpuste. Letzten Endes aber komme es gar nicht darauf an, in welchem Studio oder in welcher Abhörsituation man die Musik erschaffe: „Das Studio ist ein extrem wichtiger Ort, aber man darf es nicht übertreiben. Es kommt immer auf den Vibe an – und der kann überall passieren.“ Man müsse sich halt drauf einlassen: entweder auf die pure Harmonie. Oder auf einen Hexenkessel.
Jan Wagner's Nummern ist auf Klangbad erschienen.