Er gilt als der „Originator of House Music“, sein Klassiker „On and On“ als der erste House-Track überhaupt: Jesse Saunders hat sich seine Position in den Analen der Elektronik redlich verdient. Wie seine aktuelle Veröffentlichung „Kaleidoscope“ beweist, ruht er sich aber eher ungern auf seinen Lorbeeren aus. Saunders ist mit der Zeit gegangen – bleibt aber bis heute klassischen Produktionstugenden treu.
Beat / Man erkennt deine Produktionen sofort. Wie findet man zu so einem persönlichen Sound?
Jesse Saunders / Ich habe schon mit 14 Jahren angefangen. Ich hatte einen Kassettenrekorder mit einer Pause-Taste. Mit dem habe ich Edits von Platten angefertigt. Ich fand immer, dass viele Tracks ihr Potential nicht voll ausgeschöpft haben. Also habe ich das übernommen. Erst mit 21 habe ich meinen ersten eigenen Song geschrieben. Der war aber bereits das Ergebnis eines langen musikalischen Trainings. Wenn ich zurückblicke, würde ich sagen: Wenn du Techniken entdeckst, die für dich funktionieren, dann setze sie in all deinen Produktionen ein. So entstehen die Stilrichtungen, an denen du die Handschrift eines Produzenten erkennen kannst. Alle guten Songwriter haben einen eigenen Sound. Man könnte auch vereinfacht sagen: Sie wissen, was funktioniert und was nicht.
Beat / Manche Genres haben aber ihrerseits auch einen eigenen Sound. Schränkt das nicht diese Freiheit ein?
Jesse Saunders / Nein, denn du kannst immer noch deinen Sound aus einem Genre nehmen und ihn ganz woanders einsetzen. Damit es passt, musst du manchmal gar nicht mehr machen als die Tonhöhe an zu passen oder aus ganzen Noten Viertel- oder Achtelnoten machen. All das wird deiner Komposition eine klarere Form geben. Wenn du einmal ein tieferes Verständnis für Klänge gewonnen hast - und dazu zähle ich Drum-Sounds gleichermaßen wie melodische - wirst du sie auch besser einzusetzen wissen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Jeder Sound kann zu einem Teil deines Tracks werden. Nur du kannst sagen, welcher Teil das sein soll.
Beat / Hattest du nie das Bedürfnis, auch einmal Songs zu schreiben, die sich an die Musik anderer Künstler anlehnt?
Jesse Saunders / Es gab natürlich Künstler, die mich beeinflusst haben. In meinen frühen Jahren waren das vor allem Earth, Wind & Fire, Chaka Khan and Rufus, die Isley Brothers, Fleetwood Mac und die Eagles. Ich habe studiert, wie sie Melodien schreiben und das tief verinnerlicht. Aber ich hatte schon immer eine genaue Vorstellung davon, was ich erreichen wollte. Als ich 1986 mit Farley „Jackmaster“ Funk „Love can't turn around“ aufgenommen habe, wollte er Isaac Hayes' „I can't turn around“ kopieren. Ich aber wollte, dass die Produktion für sich selbst steht und neue Lyrics und Melodien bekommt. Mit der Einstellung haben wir dann Geschichte geschrieben.
Kostenloses Debüt
Beat / Du hast in einer Zeit angefangen, die sich mit der heutigen Musik-Szene kaum noch vergleichen lässt. Wie darf man sich deine ersten Studio-Sessions vorstellen?
Jesse Saunders / Das erste Studio, in dem ich aufgenommen habe, war das Solid Sound in Hoffman Estates. Das liegt in direkter Nähe von Chicago. Ein Freund von mir, Kevin Richards, absolvierte gerade sein Sound-Engineering-Studium. Er lud mich zu einer kostenlosen Session ein, um „Fantasy“ aufzunehmen. Das sollte sein Abschlussprojekt werden. Ich habe mich vor Ort nach einer Band umgesehen und Monate damit verbracht, mit ihnen zu proben. Sie hatten gerade einen Talentwettbewerb gewonnen und es ließ sich im Vorfeld gut an. Dann kamen wir ins Studio und nichts lief wie geplant.
Beat / Was ist passiert?
Jesse Saunders / Der Schlagzeuger konnte den Takt nicht halten, weil er so aufgeregt war. Daraufhin sind alle anderen aus dem Konzept gekommen. Ich musste also zurück ans Reißbrett. Ich habe mir als Erstes eine Synsonic Drum Machine von Mattel gekauft. Die hatte ich im Fernsehen in einem Werbespot gesehen und dabei ist mir ein Licht aufgegangen.
Beat / Du hast „Fantasy“ im Grunde genommen als elektronischen Track umgedeutet.
Jesse Saunders / Ja. Ich habe mir noch eine Roland TR-606 und eine TB-303 für den Bass geholt. Das war das erste Mal, dass ich den Bass nicht auf meinem Klavier spielen musste. Vor allem konnte ich jetzt die wichtigsten Teile des Songs selbst vorbereiten! Beim nächsten Aufnahmetermin lief alles glatter und der Song wurde zu einem Klassiker.
Beat / Bis heute klingen viele deiner Produktionen, als ob du mit einer Band zusammenarbeitest.
Jesse Saunders / Du kannst ein Gefühl, das deiner Seele entspringt, nicht digital einfangen. Du musst deine Sachen zumindest selbst einspielen und darfst sie nicht quantisieren. Sonst haben sie einfach kein menschliches Gefühl. Du musst Musiktheorie kennen, wissen, wann man die Tonart wechselt, dich mit Crescendi und Decrescendi, Kontrapunktik und Taktbezeichnungen auskennen. Bei „Fantasy“ hat es mich Monate gekostet, bis alles gepasst hat. Dafür ist es bis heute eines meiner besten Arrangements!
Beat / Warum genau siehst du digitale Produktionsmittel so kritisch?
Jesse Saunders / Die digitale Welt legt dir Schranken auf. Wenn ein Song ausschließlich in Ableton produziert wurde, kann ich das hören. Es gibt da eine innere Spannung. Die Musik kommt irgendwie nie dort an, wo sie hin will.
Grundlegende Übereinstimmung
Beat / Wie wichtig ist es, dass man mit den anderen Musikern bei einem Projekt im selben Raum sitzt?
Jesse Saunders / 1988 habe ich das Chicago-Reunion-Album aufgenommen und das war das erste Mal, dass ich mit einem Sänger gearbeitet habe, der nicht bei mir im Studio saß. Wir haben die Vocals von Tyrie Cooper in London aufgenommen und den Track dann bei mir produziert. Inzwischen nutze ich Internet und Skype. Ich habe für meine aktuelle Veröffentlichung „Kaleidoscope“ mit Dani Ivory gearbeitet und wir haben ständig Aufnahmen über Dropbox ausgetauscht. Das ist möglich, weil ich ihrem Instinkt und ihren Entscheidungen inzwischen völlig vertraue. Das geht aber nicht mit jedem. Man muss schon ein gewisses Maß an Übereinstimmung haben. Und wir waren ganz zu Anfang auch zusammen im Studio.
Beat / Wie sind die Aufnahmen zu „Kaleidoscope“ konkret abgelaufen?
Jesse Saunders / Ich habe mit einem Drum-Beat und einer Bassline angefangen. Darüber legt Dani dann üblicherweise ihre Vorstellungen einer Harmoniefolge und wir arbeiten dann gemeinsam an einer Variante, die uns beiden zusagt. Danach füge ich einige DJ-freundliche Elemente hinzu, beispielsweise Percussion-Sound-Effekte und eine Struktur. Meistens machen wir an dieser Stelle eine Zäsur. Den nächsten Tag verbringe ich damit, eine Melodie und den Text zu schreiben. Ich summe die Melodien und füge zunächst einmal Worte ein, die sich gut anfühlen. Dann schicke ich meine Ideen an Dani, die den Text ergänzt und fertigstellt.
Beat / Das klingt alles sehr entspannt. Wie sieht dein Tagesablauf aus?
Jesse Saunders / Wenn ich an einem Projekt arbeite, wache ich meistens zwischen 9 und 10 Uhr morgen auf. Ich mache mich fertig, trinke einen kalt gepressten organischen Fruchtsaft und esse eine Banane. Danach sehe ich auf meinem Telefon nach, ob ich für meine Agenten, Manager oder PR-Agenten etwas erledigen muss. Danach geht es ins Studio, wo ich an aktueller Musik arbeite. Nach ein paar Stunden begebe ich mich an meinen liebsten Ort, das District in der Green Valley Ranch. Da kannst du mich dann dabei erwischen, wie ich entweder etwas schreibe, plane, mit Partnern über Geschäftsvorhaben nachdenke oder ein Meeting abhalte.
Beat / Warum arbeitest du dort am liebsten?
Jesse Saunders / Ich liebe diesen Ort, weil es wie ein Urlaub unter blauem Himmel ist. Palmen, warmes Wetter, Sonne, bequeme Sitzgelegenheiten – für mich ist das ideal! Aber eigentlich kann ich immer und überall an Musik arbeiten, solange mich die Muse küsst. Du wirst mich ganz oft in meinem Auto finden. Dort höre ich den Song, an dem ich gerade arbeite, immer und immer und immer wieder. Ich brauche diese Kontraste: Das Chaos des Lebens treibt mich dazu an, überhaupt Songs zu schreiben. Aber die Stille des Lebens treibt mich dazu an, dabei ganz konkrete Begebenheiten aus meinem Leben zu offenbaren.
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