Auf seinem neuen Album „All Melody“ zieht Nils Frahm alle Register seines Könnens: von spontaner Improvisation über durchkomponierte Chorpassagen bis hin zu kosmischen Beats. Ein ganzes Jahr hat er sich dafür in sein neues Studio im Funkhaus Berlin zurückgezogen, viele Stunden Material immer wieder neu arrangiert – und dabei einen Kampf mit sich selbst ausgetragen.
Beat / Du bist seit ziemlich genau einem Jahr hier im Studio 3 des Funkhaus Berlin. Inzwischen wirkt es schon sehr wohnlich. Wie sahen die Räume aus, als du eingezogen bist?
Nils Frahm / Es war total leer und es hat ein halbes Jahr gedauert, bis man so einigermaßen eine Infrastruktur hatte, die funktionierte. Ich mache noch immer Kleinigkeiten nebenbei. Eine Tischlerin kommt ab und zu vorbei. Und dann reparieren wir die Dinge Stück für Stück. Sachen, die klappern, zum Beispiel …
Beat / Die Stücke auf deinem neuen Album haben sehr „große“, universelle Titel: „The Whole Universe Wants to be Touched“, „Fundamental Values“ oder „Forever Changeless“. Was für Themen gingen dir bei diesem Album im Kopf herum?
Nils Frahm / Ich wollte glaube ich gar nichts Größeres machen. Ich wollte es einfach nur richtig machen. Ich konnte das mein Leben lang nie, weil es immer jemanden gab, der meinte: nee, du musst Freitag noch zum Konzert und du musst da und dort hin und dann machen wir noch das … Und das war bei diesem Album nicht der Fall. Ob sich das jetzt lohnt für den Hörer, ob der das jetzt besser findet als mein Debüt „Wintermusik“ war mir relativ wurscht. Ich wollte einfach nur die Zeit haben, und auch die Muße, alle Kabel perfekt zu legen ohne Cutting Corners. Und wenn das Klavier nicht richtig gestimmt war, habe ich mir einfach sich noch eine Woche Zeit genommen.
Beat / Vielleicht kommt meine Vermutung auch daher, dass das Album wirklich eine eigene Welt aufspannt. Es vermittelt sehr viel Raum …
Nils Frahm / Das kommt durch das Studio. Das vibriert mit. Ich hätte auch nicht gedacht, dass das so einen Unterschied macht. Man fokussiert ja immer auf das Instrument, das man aufnehmen möchte. Dass man mit jeder Aufnahme auch immer diesen Raum, dieses Volumen, mit aufnimmt, das ist einem erst mal gar nicht klar. Aber wenn man dann später genau hinhört, ist es dann doch da. Es war auch eine bewusste Entscheidung, aus meinem früheren Studio, dem Durtonstudio, raus zu gehen. Ich wollte eigentlich schon immer mal was anderes machen. Aber wie es halt so ist: Wenn es läuft, dann läuft's. Und dann macht man es doch noch mal dort. Geht ja auch. Aber ich habe da 12 Jahre gewürgt und die Nachbarn haben es immer wieder ausgehalten. Irgendwann sind die ausgezogen … und dann kamen neue und dann ging es wieder von vorne los. Den Traum, ein geiles Studio aufzubauen, habe ich schon, seitdem ich 13 war und zum ersten Mal in einem großen Studio war.
Beat / Welches war das?
Nils Frahm / Das O'Ton-Ougenweide-Studio in Hamburg. Ein recht interessantes Studio. Sie machen Theatermusik und es sah ein wenig so aus, als würde dort Tom Waits produziert. Vom 70er-Jahre-Mischpult über fette alte Neumann-Mikros bis hin zu Harmonium und Celesta. Im Prinzip ist es dort wie hier: Alles voll mit echten Instrumenten. Viel Holz, Luft und Mikrophone. Für mich war es das erste Mal, dass ich so etwas in einer solchen Größe und Unglaublichkeit gesehen habe. In dem Augenblick dachte ich: Okay, alles klar. Das ist mein Ding.
Beat / Ist das gesamte Material für „All Melody“ im Funkhaus entstanden oder war es zumindest schon zum Teil vorher fertig?
Nils Frahm / Ich habe im Grunde genommen alles hier fertiggestellt. Ich hatte ein paar Ideen im Kopf, ein paar Akkordfolgen und Dynamiken. Ich wusste auch, dass ich etwas mit Chor und Percussion machen und Gastmusiker einladen wollte. Ich hatte mir verschiedene Sachen vorgenommen, die ich ausprobieren wollte. Hätte ich dann am Ende festgestellt, dass ich das alles doch nicht möchte, hätte ich immer noch in ein paar Wochen ein Solo-Piano-Album aufnehmen können. Aber das war mir in dem Augenblick völlig egal. Ich wollte zunächst einmal wieder etwas als Produzent dazu lernen. Ich habe jetzt so lange nichts produziert und das tut mir in der Seele weh. Ich langweile mich, wenn ich eine Sache zu wenig mache, beziehungsweise eine andere Sache zu viel. Und deswegen war es echt mal wieder an der Zeit, richtig im Studio zu arbeiten, wie damals, als ich Schüler war. Jeden Tag bin ich nach Hause gekommen und habe irgendwelche Sachen auf dem Computer gemacht, oder an den Synthesizern oder an der Bandmaschine. Dabei habe ich immer etwas heraus gefunden oder entdeckt. Ich liebe diese ganze Dub-Schiene, Lee Scratch Perry und die ganze Studio-Szene dort. Das Studio als Instrument zu begreifen fand ich schon immer spannend. Die Aufnahmen zu „All Melody“ waren für mich so wie mal wieder Klavier üben zu gehen – nur war es dieses Mal „Mischpult üben gehen“.
Beat / In dem ersten Stück auf dem Album, „The Whole Universe Wants to be Touched“ werden die Chorstimmen durch verschiedene Effekte verfremdet. Betrachtest du da gewissermaßen ein klassisches Stück durch die Brille von Dub?
Nils Frahm / Für mich sind die Stimmen im Grunde genommen ein weiteres Instrument in meinem Keyboard-Arsenal. Ich wollte mit diesen Klängen nicht respektvoller umgehen als mit Klängen, die aus meinem Mellotron purzeln. Wenn es aus dem Mellotron kommt, geht es auch durch ein Delay. Es war diese Möglichkeit, im Studio noch packendere Sounds zu finden, als ich sie in meinen Tasteninstrumenten habe. Deswegen habe ich auch Gastmusiker eingeladen. Ich habe beispielsweise ein Saxophon auf meinem Mellotron. Manchmal aber spielt auch eine echte Trompete. Und ich habe das Gefühl, dass diese eine echte Trompete, die man ganz klar als echtes Instrument identifiziert, mit ihrer Echtheit die ganzen unechten Instrumente infiziert. Sodass man am Ende gar nicht mehr weiß: Was ist echt, was ist unecht. Und wenn man das einmal kombiniert hat, dann wird letzten Endes alles unecht und alles echt.
Beat / Und manche der akustischen Sounds haben ja auch gewisse akustische Qualitäten.
Nils Frahm / Spätestens dann, wenn sie durch ein Kabel gehen. Und am Ende geht alles durch ein Kabel, ob es ein Mikrophon ist oder ein Synthesizer. Es ist alles elektroakustisch.
Ein Ordner mit Ideen
Beat / Du hast gesagt, das Album hat zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Dinge bedeutet. Gab es verschiedene Versionen davon? Eine Ursprungsidee, aus der sich alles entwickelt hat?
Nils Frahm / Es gab nur dieses eine Stück, „All Melody“. Ansonsten habe ich über viele Wochen hinweg ungefähr 60 Ideen formuliert, nummeriert und beschriftet. Und dann habe ich damit einen Riesenordner angelegt und den immer wieder angehört. Ich habe mich immer wieder von vorne bis hinten den ganzen Ideen gewidmet, zyklisch also. Dabei wurde es für mich immer klarer, was für mich stabil ist und besser wird und was eher abbaut. Ich hatte schon eine Platte geplant, die sogar noch länger war … ich hatte schlussendlich so 5 bis 6 Stunden Demos. Und dann habe ich sie so stark eingekürzt, dass es sich schon so anfühlte, als würde ich alles wegschmeißen müssen. Aber Aussortieren fällt mir leicht – es macht das stärker, was übrig bleibt. Wenn ich eine Stunde Klavier aufgenommen habe, aber nur drei Minuten brauche, dann ist es für mich eine Riesenfreude, das Meiste zu entsorgen. Erst dann kann ich etwas damit anfangen, erst dann ist es präzise und auf den Punkt.
Beat / Trotzdem: Beschleicht einen da nicht die Panik, wenn einem das Erreichte zwischendurch zwischen den Fingern zu zerrinnen droht?
Nils Frahm / Ich musste tatsächlich die Nerven behalten, weil ich am Ende der Einzige war, der wirklich noch Durchblick hatte. Irgendwann ist das eine Sache, die du nicht mit deinen Bandkollegen teilen kannst. Die kannst du nicht mal mit deiner Frau teilen, nicht mal mit deinen besten Freunden. Das ist der Punkt, an dem ich gemerkt habe: Das geht an die Nieren. Das ist so ein Kampf. Natürlich auch, weil du weißt, dass da so eine große Erwartung hinter steckt. Andererseits bin ich stolz auf mich, dass ich am Ende sagen konnte: Ja, das ist es! Denn natürlich bin ich nicht wirklich fertig geworden (lacht). Ich hätte auch noch ein Jahr oder zwei damit weitermachen können.
Beat / Und trotzdem hat das Album unglaublich viel Ruhe.
Nils Frahm / Ich habe es irgendwie geschafft, ein gewisses Gefühl von Konzentration und Fokus, von maximalen Momenten und auch sehr rohen Augenblicken zu vermitteln. Gewisse Songs nicht tot zu mischen, obwohl ich wirklich viel Zeit hatte. Das war wichtig, denn die Erfahrung habe ich natürlich auch schon gemacht: Dass es manchmal ganz hilfreich sein kann, nicht zu viel Zeit zu haben. Dann lässt man halt mehr von diesen Ecken und Kanten drin, die das Album am Ende besonders machen.
Beat / Ich schätze, das ist der Vorteil einiger Jazz-Scheiben aus den 60ern: Du gehst in Studio, machst drei Takes und dann ist ein Klassiker wie „Kind of Blue“ im Kasten.
Nils Frahm / Ja, 2 Tage aufnehmen, 2 Tage mischen, einen Tag mastern. Tatsächlich bin ich aber auch darin beschenkt, dass ich in Echtzeit ein Album machen könnte. Also: Drei Stunden improvisieren und daraus die 40 schönsten Minuten auswählen. Und auch da wäre ganz viel drin – da steckt ja auch meine ganze Lebenserfahrung drin. Jede einzelne Note, die Pausen dazwischen ... Diesen Teil meiner Persönlichkeit auf einem Album gar nicht nutzen zu können wäre mir schwergefallen. Deswegen habe ich doch noch zwei solcher Stücke auf dem Album: Soloklavierstücke, die man eben mal nachts um 2 aufnimmt, bevor man ins Bett geht. Und es ist schön, diesen Momenten Stücke gegenüberzustellen, mit denen du Monate verbracht hast, und sie ineinanderfließen zu sehen. Das fand ich ganz toll.
Beat / Ganz allgemein kann man aber schon sagen: Irgendwann werden die Dinge nicht mehr besser.
Nils Frahm / Bei Talk Talk hat's geklappt. Wobei ich bei den Alben auch sagen muss … irgendetwas ist dabei auf der Strecke geblieben. Ist es der Ton? Oder ist es die Echtheit? Irgendwie klingt es dann doch ein bisschen zu verarbeitet, zu übermischt und zu durchdacht. Aber eben trotzdem großartig! So ein bisschen ein Gefühl von einer Zwanghaftigkeit hat es schon. Wenn ich mit meiner Mutter spreche über die 60er und 70er, dann glaube ich, dass die Leute sich damals relativ ernst genommen haben. Bei ECM, das ich auch sehr liebe und viel gehört habe … bei Manfred Eicher fehlt mir das so ein bisschen.
Beat / Da gibt es eher keine Ironie …
Nils Frahm / Nee … (lacht) Die Ironie kam erst durch den Punk. So etwas wie Studio Braun, der Hamburger Humor, die Hamburger Schule … das ist ja meine Vergangenheit. Und so möchte ich neben meinen riesigen Pink-Floyd-Ambitionen, die ich mitbringe, immer auch ein gewisses Augenzwinkern einfließen lassen.
Beat / Wie die ersten Sekunden des Albums.
Nils Frahm / Genau. Da sind noch ein paar Fußschritte drin … ich komm zu spät zum Take … und dann erst geht das Album los.
Ein Track wie ein Nest
Beat / Ganz zu Anfang war da nur ein einziges Stück, der Titeltrack „All Melody“ – als kosmische Sequenzer-Komposition vielleicht nicht ganz so typisch für dich. Warum hat gerade dieses Stück den Prozess angestoßen?
Nils Frahm / Weil das Stück einfach gut ist und auch live immer ein toller Teil des Sets war. Im Prinzip ist das entstanden, nachdem ich mein Album „Spaces“ bereits fertig gemischt hatte. Und so war dieser Track, den ich sehr wichtig fand, auf „Spaces“ nicht drauf. Alle haben dann gesagt, man könne ja auch eine EP draus machen. Ich fand eine EP oder 12inch aber nicht so toll. Eine Single zu veröffentlichen finde ich in Zeiten von Spotify ein wenig wie AfD wählen – sollte man nicht machen, wenn man eine politische Haltung zum Musikgeschäft hat. Ich musste also ein Album finden, in das sich dieses Stück wie ein Nest einsetzen lässt. Und was für ein Album ist das, in das ein Stück rein passt, dass eine Four-to-the-Floor-Kickdrum hat? Ein reines Piano-Album ist es wohl eher nicht. Meine Konzeption war also: Ich mache ein Album für dieses Stück „All Melody“, in dem man es nicht für seltsam hält.
Beat / „All Melody“ geht dann nahtlos in „#2“ über und schließlich gibt es sogar noch eine Art Nachgedanken in dem Track „Momentum“. Es ist wie eine Art klassische Suite.
Nils Frahm / Genau … ich hatte so viele verschiedene Versionen von „All Melody“, dass ich zuerst dachte: Vielleicht nutze ich eine davon als Intro. Und dann war die bessere Idee aber für mich, das als Stück erst später nochmal neu aufzugreifen. Das gibt so ein bisschen einen Filmmusik-Moment, bei dem man das Gefühl hat, das Thema kommt wieder.
Beat / Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Dieses Album hat ja auch wirklich etwas Filmisches.
Nils Frahm / Meine Musik ist schon cineastisch, man sieht sehr viele Bilder. Am Ende sind es 74 Minuten und ich wäre glücklich, wenn man sich die auf die Ohren packt und konzentriert hört. Aber das Gute ist, dass ich nicht wie ein Regisseur alles kontrollieren muss. Ich muss nur eine Art Katalysator sein. Die Bilder, die da im Kopf entstehen, sind für jeden anders. Das ist für mich das Schönste daran. Ich wäre andersherum nicht so gerne Filmemacher. Dabei geht es darum, dass am Ende jeder denselben Film sieht. Während es bei meiner Musik wichtig ist, dass jeder sie für sich benutzt, um sich mit Sachen zu beschäftigen, die ich mir gar nicht vorstellen kann.
Beat / Es geht einerseits um Manipulation – und dann wieder überhaupt nicht.
Nils Frahm / Es ist kugelförmige Manipulation, keine zielgerichtete. Ich will dich nicht sechs Zentimeter nach rechts stellen. Ich will nur ein Erdbeben in alle Richtungen, und wenn du dabei ein bisschen verrutscht – okay. Wenn nicht, dann ist das auch okay. Es ist nur eine Möglichkeit. Du kannst dich einklinken in diese Musik und dich einfach mitschleifen lassen und dann wirst du irgendwo abgesetzt und guckst dich mal um. Oder du willst halt nicht mit. Bei Filmen hast du diese Wahl gar nicht. Bei Filmen muss jeder mit, ansonsten gehst du raus. Entweder du bist dabei oder du guckst gar nicht hin. Deswegen könnte ich nie einen Film machen: Denn nur weil ich diese Empfindungen habe, bedeutet das nicht, dass alle anderen sie teilen müssen.
Beat / Wenn schon kein guter Regisseur, wärst du vielleicht ein guter Maler oder Schriftsteller geworden?
Nils Frahm / Ich glaube schon, dass ich mich mit anderen Medien beschäftigen könnte. Ich habe früher, als Kind, viel gemalt. Ich war mir sicher, dass ich Maler oder Fotograf werden würde. Mein Vater war ja Fotograf. Visuell fällt mir alles sehr leicht. Ich kann sehr gut gestalten, man sieht das vielleicht auch so ein bisschen am Studio. Am Einrichtungs-Touch. Mein Vater ist ein großer Augenmensch, ein großer Ästhet. Er hat mein Auge als Künstler sehr trainiert. Ich glaube, meine Sinne sind ganz gut geschärft. Nur meine Nase funktioniert sehr schlecht, ich wäre wohl der schlechteste Parfum-Macher der Welt (lacht). Aber zu Bild und Musik konnte ich schon immer etwas sagen. Ich habe witzigerweise jetzt einen tollen Galeristen kennengelernt, der mir angeboten hat, in seiner Galerie aus zu stellen.
Beat / Bilder oder Fotos?
Nils Frahm / Nein, er meinte einfach nur: Nils, du bist ein Künstler, du brauchst einen Galeristen. Ich fand das ganz schmeichelhaft und cool. Da denkt jemand schon einen Schritt weiter!
Beat / Du hast dir zur Zeit Deines Albums „Screws“ den Daumen gebrochen. Was wäre eigentlich gewesen, wenn du mit der Hand niemals mehr hättest Musik spielen können?
Nils Frahm / Dann hätte ich wahrscheinlich noch mehr den Computer und noch mehr Technik benutzt. Und ich hätte versucht, daraus eine Geschichte zu schreiben, die ungefähr so lautet: Kreativer Mensch hat einen schweren Schicksalsschlag, der ihm verbietet, all das zu tun, was er tun wollte. Und jetzt gucken wir ihm dabei zu, wie er genau daraus das Beste macht.
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2005 | Streichelfisch
2009 | Wintermusik
2009 | The Bells
2011 | Felt
2012 | Screws
2013 | Spaces
2015 | Solo
2015 | Victoria OST
2017 | All Melody
Dieser Artikel ist in unserer Heft-Ausgabe 146 erschienen.