Sieben Jahre nach seinem sensationellen Debütalbum „The Golden Age” meldet sich der französische Künstler Woodkid mit dem zweiten Longplayer „S16” zurück und präsentiert ein aufwendiges Opus zwischen Soundtrack-Elementen, Avantgarde und Popmusik. Wir sprachen mit dem Künstler, der im bürgerlichen Leben Yoann Lemoine heißt und überdies auch ein erfolgreicher Video-Artist ist, über die Produktion und Orchesteraufnahmen, das Schwefel-Konzept und die Schnelllebigkeit in der Musikindustrie.
Beat / Seit deinem Debütalbum sind ungefähr sieben Jahre vergangen. Da liegt die Frage auf der Hand, weshalb es so lange gedauert hat, einen Nachfolger zu produzieren?
Yoann / Es fühlte sich an, als würde die Zeit nur so vorbei rasen. Als mein erstes Album fertig war, hatte ich das Gefühl, dass ich mir für den Nachfolger etwas mehr Zeit lassen sollte. Ich fühlte mich ausgebrannt und es gab viel zu lernen. Entsprechend kümmerte ich mich die letzten Jahre vornehmlich darum, besser zu werden, machte ein paar Kollaborationen und traf andere Menschen. Dann bin ich eines Morgens aufgewacht, das Album war fertig und es waren eben sieben Jahre. Ich habe mir schon immer viel Zeit genommen für meine Projekte, ob Videos oder Musik. Zeit ist kostbar. Je mehr Zeit man sich für etwas nimmt, desto mehr Wert hat es aus meiner Sicht. Es ist auch ein politisches Thema – gerade in der heutigen Zeit, wo alles so schnelllebig ist. Die hohe Geschwindigkeit der Musikindustrie und der Welt im Allgemeinen führte bei mir zu einem Gefühl der Ausgelaugtheit. Daher war es ein Stück weit meine Form von Rebellion. Wenn der Boss von Spotify sagt, Künstler müssen heutzutage öfter als alle drei Jahre Musik veröffentlichen, wenn sie noch Geld verdienen wollen, dann lasse ich mir umso mehr Zeit.
Beat / Es klingt zwar wie ein Klischee, aber das Album war die Wartezeit definitiv wert. Der Titel „S16“ war lange Zeit ein Geheimnis. Was steckt dahinter?
Yoann / S16 ist die chemische Ordnungszahl für Schwefel. Ich habe das Album gewissermaßen um das Element Schwefel herum aufgebaut. Es interessierte mich von Anfang an sehr stark, da es so vieldeutig ist. Es hat viel mit Leben zu tun, da es zum Beispiel als Dünger eingesetzt wird, ist aber gleichzeitig auch einer der Hauptbausteine des Lebens auf der Erde. Aber es kann auch ein sehr giftiges Element sein und ist in der Alchemie das Symbol des Teufels. Ich fand den Gedanken, die ganze Album-Kampagne um Schwefel herum aufzubauen, sehr interessant. Es gibt ein komplettes ARG (Alternate Reality Game) online, das sich mit einer fiktiven Firma befasst, die ich dafür auf- gebaut habe. Es gibt auch eine Webseite und ein Fake-Facebook-Profil dazu.
Beat / Zieht es sich auch durch die Texte?
Yoann / Ja, teilweise schon. Es tauchen viele chemische und medizinische Begriffe auf. Und ich denke, das Konzept von Toxizität hält das ganze Album zusammen.
Beat / Das ist interessant, denn angesichts der sehr emotionalen, gefühlvollen Musik liegt das nicht unbedingt nahe.
Yoann / Ja, es geht auch viel um Emotionen, aber ich verwende Metaphern, die eine weiterreichende Interpretation zulassen. Mir ist es wichtig, dass jeder seine Geschichte darin wiederfinden kann und es nicht auf meine persönlichen Erfahrungen reduziert wird. Aber am Ende ist alles irgendwie Chemie. Zum Beispiel „Pale Yellow“ – die Farbe von Schwefel. Es geht darin um eine sehr intime persönliche Beziehung, um Sucht. Es ist eine oft industrielle, chemische, fast schon wissenschaftlich klingende Sprache wie in „release the drain and let the fluid go“. Es geht um die Idee, dass der Körper gewissermaßen eine Maschine ist.
Beat / Hast du sieben Jahre lang an diesen Songs gearbeitet?
Yoann / Ich habe Anfang 2015 begonnen, als ich das Gefühl hatte, wieder etwas zu sagen zu haben und emotional wieder in dem Zustand war, dass ich Musik machen wollte. Ich habe damals Sessions mit Son Lux und anderen französischen Künstlern gemacht. Zu der Zeit war ich auch Teil des People-Kollektivs, das von The National, Bon Iver und einigen anderen ins Leben gerufen wurde. Wir waren zusammen in Berlin und richteten ein Festival im Funkhaus aus. Das inspirierte mich, meine Songs, die in diesem Kontext entstanden waren, weiter auszuproduzieren. Ich habe also nicht durchgehend an neuen Songs gearbeitet. Es war eher so, dass ich immer mal die Samen für einen Song gesagt habe und sie dann wachsen ließ, zum Beispiel in Kollaborationen. Und wenn sie sich nach fünf Jahren immer noch gut anfühlten, kamen sie aufs Album. Aber es ist nicht so, dass ich 200 Songs geschrieben und zehn ausgewählt habe. Es waren insgesamt eher 12 bis 15 Tracks, wovon einige zu einem Stück zusammengefasst wurden.
Beat / Das Album klingt experimenteller und vielfältiger als das Debüt. Gab es konkrete musikalische Einflüsse?
Yoann / Ja, sehr viele sogar, allerdings nicht unbedingt konkreter Art. Daher kann ich keine bestimmten Songs oder Künstler nennen. Ich bin fasziniert von minimalistischer, repetitiver Musik aus den 70ern und schätze Komponisten wie Glass oder Stockhausen sehr, auch wenn ich ihre Musik nicht unbedingt im traditionellen Sinn mag. Aber ich weiß die Theorie dahinter sehr zu schatzen. Ich habe versucht, mehr Zufall in die Musik zu bringen, insbesondere bei der Arbeit mit dem Orchester. Die Instrumente nehmen gewissermaßen ein Eigenleben an und spielen nicht permanent nur im Ensemble. Aber auch Industrial war ein großer Einfluss, wenngleich ich meine eigene Interpretation industrieller Musik präsentieren wollte. Ebenso ist japanische Musik ein zentraler Einfluss, was ich schon lange mal in meinen Sound einbinden wollte. Am Ende steht ein sehr bizarres Mashup aus verschiedenen Welten.
Beat / Wolltest du im Vergleich zu „The Golden Age“ bewusst Dinge anders angehen?
Yoann / Ja, die Musik sollte ein pervertierter werden. Als ich beim ersten Album anfing, mit dem Orchestra zu arbeiten, hatte ich zunächst nur eine vage Idee und wusste noch nicht, wie man für sinfonische Instrumente schreibt. Ich denke, wir haben einen sehr gradlinigen Ansatz für das Album gewählt, wodurch es wie ein Hollywood Blockbuster klingt. Aber in den letzten sieben Jahren haben sich sowohl meine Einflüsse als auch mein Wissen vergrößert. Ich habe nicht nur gelernt, was man traditionell mit diesen Instrumenten machen kann, sondern auch ausgefallene Techniken. Ich wollte von Beginn an, dass das Thema Toxizität im Fokus steht. Das Album hat etwasVirales, es ist gewissermaßen infektiös. Das spiegelt sich in der orchestralen Arbeit wider, wo immer wieder Instrumente falsch gestimmt sind und viele Bendings gespielt werden. Im Mix wiederum war eine große Dynamik wichtig, sodass den Hörer einige laute Passagen förmlich anspringen. Wenn man die Wellenformen ansieht, erkennt man die Dynamik sehr deutlich, denn es sind eben keine platten Würste. Auch Stille oder plötzlich abgeschnittene Reverbs spielen in dieses Konzept hinein, denn es gibt einige radikale Wechsel. Teils verändern sich die Hallräume sowie Mono- und Stereokonzepte mehrfach binnen eines Songs. All dies gab es so radikal auf dem Debüt nicht.
Beat / Ja, es gibt sehr viel zu entdecken.
Yoann / Ich bin sehr stolz auf das Album, weil ich denke, dass es eine Schatztruhe voller Ideen ist. Es gibt viele kleine Erfindungen, die mit zufälligen Prozessen einhergingen und auch für mich überraschend waren. Und manchmal ging es eher darum, ungewöhnliche Klangassoziationen zu finden. Es gibt keine Drums, Gitarren und Bässe auf dem Album. Es ist also nichts Rockiges darauf. Es ging eher darum, Sounds zu finden, die anders waren.
Beat / Lass uns mehr über die Arbeit mit dem Orchester wissen.
Yoann / Wir haben mit dem Abbey Road Orchester in London aufgenommen. So wurde ein Kindheitstraum wahr. Dadurch klingt das Album so viel besser als die Demos.
Beat / Hast du es mit programmierten Orchesterelementen kombiniert?
Yoann / Ja, sehr viel. Meine Musik hat immer diese Mehrdeutigkeit. Man weiß nie, ob etwas echt ist oder nicht. Diese Art von Illusion ist allen Songs auf der Platte gemein. Ich habe viel am Computer gearbeitet und viel programmiert, aber es besteht oft aus organischen Elementen, die wir zuvor aufgenommen hatten. Und wenn ich etwas programmiere, versuche ich immer, eine menschliche Qualität hinein zu bringen, daher gibt es immer Variationen und es fühlt sich nie wie Copy & Paste an.
Beat / Wie hast du die Stimmen für das Orchester arrangiert? In MIDI?
Yoann / Normalerweise sitze ich am Klavier und schreibe einen ersten Arrangement-Entwurf. Danach arbeite ich mit professionellen Arrangeuren zusammen, die es sauber notieren, weil ich nicht sehr gut darin bin, etwas für das Orchester zu schreiben. Dann nehmen wir es auf und anschließend gehe ich zurück ins Studio und mache meine Optimierungen. Manchmal schreibe ich Sachen, bei denen ich bereits weiß, dass ich sie später manipulieren werde. Wir neh- men beispielsweise etwas auf, das fünf Halbtöne höher ist, damit ich es später pitchen kann, weil ich weiß, dass ich etwas Dunkleres anstrebe. Oder wir lassen es schneller einspielen und verlangsamen es dann. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen der realen Welt und den Maschinen.
Beat / Warst du bei den Orchesteraufnahmen persönlich dabei?
Yoann / Ja, natürlich. Es ist immer aufregend, aber wenn man an Orten wie diesem aufnimmt, ist die Zeit sehr kostbar und man hat einen engen Zeit- plan. Daher hat man keine Zeit, verzückt zu sein. Oft merkt man erst im Schnittraum, was toll war und was nicht. Es ist ein großartiges Orchester und es ist ein fantastisches Studio, aber wenn man ihnen nicht das passende Material gibt, klingt es am Ende trotzdem nicht gut. Das merkt man mit zunehmender Erfahrung. Und ob es wirklich richtig gut ist, erfährt man eh erst am Ende im eigenen Studio, beim Hören über sein Monitorsystem.
Beat / Es gibt auch einen Chor in einigen Songs...
Yoann / Das ist der Suginami Junior Chorus, mit dem ich bereits vor vier Jahren zusammengearbeitet habe, als ich die Musik für eine Modenschau von Nicolas Ghesquiere geschrieben habe. Es ist eine Show mit Martial-Arts-beeinflussten Outfits. Ich habe einige Nachforschungen über Chöre angestellt und diesen Chor gefunden, mit dem wir letzten Dezember vor dem Lockdown in Japan aufgenommen haben. Es war die Idee, dass ein Kinderchor auf eine Kultur verweist, die ich ebenfalls sehr mag, zum Beispiel bestimmte Videospiele oder den Film „Ghost In The Shell“.
Beat / Es gibt auch viel Klavier auf dem Album zu hören. Wie wurde das aufgenommen?
Yoann / Es ist eine Mischung aus mehreren Pianos. Ich habe einige Samples, deren Sound mir sehr gut gefällt. Es ist eine stark dekonstruierte und fragmentierte Platte, und manchmal wechsle ich innerhalb eines Songs von einem Kla- vier zum anderen. Oder ich erstelle verschiedene Ebenen. Ich habe aber auch ein Hoffmann-Klavier in meinem Studio, das ich sehr mag. Es hat einen progressiven Filz und kann mit der linken Hand gesteuert werden. Es hat einen kleinen Knopf auf der linken Seite, der dafür sorgt, dass der Filz die Hämmer stärker oder schwächer dämpft. Es ermöglicht einem, sehr gedämpft zu spielen. Außerdem habe ich einige Parts im Studio von Sigur Ròs in Island auf ihrem Klavier aufgenommen.
Beat / Du hast schon für viele Stars Videos produziert, darunter Lana Del Rey, Moby oder Katy Perry. Hat dir dies geholfen, Woodkid zu etablieren?
Yoann / Ja, ich denke schon. Allerdings hat es mir auch gezeigt, was ich nicht will. Ich würde meine Musik niemals für eine bestimmte Art von Medien formatieren. Hier bin ich wieder bei dem Beispiel, wenn der Spotify-CEO uns Musikern sagt, dass wir faul seien und aufhören sollen, uns zu beschweren. Scheiß drauf, dann brauche ich eben sieben Jahre. Ich denke, dieser Kommentar hat etwas sehr Idiotisches, da er die Frage der psychischen Gesundheit in der Musikindustrie überhaupt nicht berücksichtigt. Manchmal braucht es einfach viel Zeit, weil es sehr kräftezehrend ist, Musik zu machen und sich selbst dazustellen. Natürlich machen einige Leute auch in zwei Wochen großartige Musik, aber so bin ich nicht. Es sollte daher berücksichtigt werden, dass jeder Künstler anders ist. Ich mag die Idee nicht, dass CEOs entscheiden, wie wir Musik machen. Es sollte umgekehrt sein.