Die Mächtigen werden mächtiger, die Machtlosen machtloser. Was wie ein Klischee klingt, trifft in den meisten Branchen leidsam zu. Das gilt auch für die Musikindustrie, in der sich immer weniger Global Player den Kuchen aufteilen und der einzelne Produzent nahezu keine Chance auf Erfolg hat. Das kann unter Umständen existenzgefährdend sein.
Ein Unglück kommt selten allein. Wie aus dem Nichts flatterten mir vor kurzem zwei gleichermaßen unerwartete wie unerwünschte Briefe ins Haus: Eine Urheberrechtsklage wegen der unrechtmäßigen Online-Nutzung eines Fotos sowie ein Inkassoschreiben von Otto Office aufgrund einer verspäteten Zahlung. In beiden Fällen wähnte ich mich im moralischen Recht. Das Foto hatte ich für ein längst eingestelltes Musik-Magazin verwendet, hinter dem keinerlei Gewinnabsicht stand und auf dem ich in circa 2500 Artikeln penibel auf die Kennzeichnung der Bilder geachtet hatte. Im Falle von Otto Office hatte das Unternehmen den Fall ohne eine einzige Mahnung direkt an ein Inkassounternehmen weiter geleitet. Dennoch riet mir ein Anwalt, die bittere Pille zu schlucken und zu zahlen. Denn vor Gericht, so seine Erklärung, hätte meine Sicht der Dinge keine Chance – vor allem, da in beiden Fällen die gegnerische Partei über die Mittel verfügte, um die Angelegenheit bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Die Episode war finanziell schmerzhaft, doch machte sie mir eines bewusst: Die Machtverhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten geradezu erschreckend zu Ungunsten von Freiberuflern, Mittelständlern und selbstständigen Kreativen verschoben. Wer heutzutage am Markt präsent sein möchte, sieht sich einer ständigen Bedrohung durch ruinöse Klagen und potenzielle Rechteverletzungen ausgesetzt, einem Kampf mit ungleichen Mitteln. Sich tiefer damit auseinanderzusetzen, kann ermüdend sein. Sich nicht damit auseinanderzusetzen, birgt das ständige Risiko einer Katastrophe.
Eine Frage der Reserven
Gerade im Falle meiner inkorrekten Fotonutzung kam ich noch mit einem blauen Auge davon, weil ich der Gegenseite einen akzeptablen Deal anbieten konnte. Doch viele solcher Fälle kann man sich ohne große Finanzreserven nicht dauerhaft leisten. Vor allem in den USA hat es längst Methode, dass große Unternehmen kleinere Konkurrenten mit juristischen Mitteln einschüchtern. Wer dabei Recht hat, spielt letztendlich eine untergeordnete Rolle. Denn wenn bereits vor dem ersten Gerichtstermin Prozesskosten von 50.000 bis 100.000 US-Dollar anfallen, geben viele Betriebe lieber nach, als sich mit David’schem Mut gegen den Ansturm des industriellen Goliath zu stemmen. Es hilft auch nicht gerade, dass einige aktuelle Urteile den etablierten Marken Schützenhilfe leisten. So wurde Jacquelyn Tran, die Betreiberin der Seite „Perfume Bay“, von eBay wegen der zu hohen Namens-Nähe sowie vermeintlicher Verwechslungsgefahr verklagt. Tran fügte sich nicht einfach ihrem Schicksal, sondern nahm den Kampf an. Sie zog guter Dinge vor Gericht – und verlor. Da kann es kaum verwundern, dass die Meisten an ihrer Stelle erst gar nicht erst den Mut für eine Auseinandersetzung aufbringen.
Die Kräfteverhältnisse werden dabei zunehmend ungleicher. So legt die stärkere Seite ihre Interessen oftmals in die Hände einer neuen Generation professioneller Vollstrecker. Dabei handelt es sich um spezialisierte Betriebe mit Namen wie Degban, MarkMonitor Anti Piracy, Remove Your Media, DMCA Force und Digimarc, die einer dystopischen Mischung aus Polizei, Web-Bot und Anwaltskanzlei gleichkommen. Gearbeitet wird nahezu ausschließlich mit automatisierten Software-Lösungen, die sich unermüdlich durch die endlosen Datenwolken des Internets wühlen, um möglichen Verstößen auf die Spur zu kommen. Wie so viele Online-Innovationen entstammen die ersten Urheberrechts-Algorithmen der Porno-Industrie, die sich damit erfolgreich gegen die massenhafte Verbreitung ihrer Inhalte wehrte. Doch schon bald zog die Unterhaltungs-Industrie nach. Heute durchstreifen tagein, tagaus unzählige solcher Bots das Netz, entdecken mögliche Rechteverstöße und verschicken automatisierte Klagen. Nur in seltenen Fällen kommt dabei menschliches Urteilsvermögen zum Tragen.
In manchen Fällen führt das zu slapstickhaften Verwechslungen, wenn zum Beispiel Copyright-Dienstleister im Auftrag großer Hollywood-Produzenten Klagen an die Betreiber der Seite „Internet Movie Database“ oder auch die BBC versenden, weil die Software deren Berichterstattung nicht von einer illegalen Nutzung unterscheiden kann. Doch die Betreiber kleiner Seiten haben angesichts der geballten Macht der Industrie längst nichts mehr zu lachen. Von den potenziell desaströsen Auswirkungen auf freie Meinungsäußerung ganz zu schweigen. Was diesen Prozess noch beschleunigt, ist die zunehmende Konsolidierung in nahezu allen wirtschaftlichen Sparten. So ist die Otto Group finanziell an dem Inkassodienst DID beteiligt, was den Schritt zu hartem Vorgehen natürlich deutlich vereinfacht. Branchenübergreifend gilt, dass nahezu alle Märkte von Oligopol-Situationen bestimmt sind, bei denen typischerweise vier Unternehmen knapp 70% des Volumens unter sich aufteilen.
Konsolidierung und Verflechtung
Auch die Musikindustrie kennt diesen Konsolidierungs- und Verflechtungsprozess. Von den einstmals fünf Major-Labels sind gerade einmal drei geblieben, die zudem ihre Finger in allen angrenzenden Dienstleistungen haben, Streaming-Dienste kontrollieren und im Konzert-Betrieb aktiv sind. Besonders extrem ist die Lage beim amerikanischen Clear Channel. Als in den USA Anfang der 90er unter Präsident Bill Clinton der Telecommunications Act in Kraft trat, der jegliche Kartell-Auflagen im Medienbereich vom Tisch fegte, nutzte das Unternehmen aus San Antonio die Gunst der Stunde. Bis dato gab es klare Vorgaben, wie viele Radiosender eine einzige Firma besitzen durfte. Nach dem Wegfall der Grenzen begab sich Clear Channel auf eine Einkaufstour und erweiterte den eigenen Besitz in wenigen Jahren von 40 Sendern auf knapp 1240 (von denen heute immerhin noch 850 geblieben sind). Im Korb landeten zudem Konzerthallen und -veranstalter. Deren Verkäufe lagen zwischenzeitlich bei 27 Millionen Tickets – 23 Millionen mehr als der nächstkleinere Anbieter. Dass diese Macht nicht ungenutzt bleiben würde, überrascht nicht. So gibt es immer wieder Vorwürfe, dass Clear Channel – das sich inzwischen in den anschmiegsamen Namen iHeart Media umgetauft hat – sich weigert, die Musik bestimmter Künstler zu spielen, wenn diese nicht in den von dem Unternehmen geführten Locations auftreten. Ähnliche Verhältnisse liegen auch auf dem Journalismus- und Medienmarkt vor, auf dem sich wenige riesige Konglomerate den größten Teil der Print- und Online-Presse aufteilen. Für neue Künstler und kleinere Acts sind die finanziellen Möglichkeiten, in diesem Spiel mitzumischen, nahezu verschwindend gering.
Das Hauptproblem: Der allergrößte Teil der Produzenten und Musiker fällt in genau diese Kategorie. So stellt sich die Frage, welche Strategie angesichts dieser Übermacht und widrigen Umstände zu fahren ist. Eine eher defensive Herangehensweise besteht darin, jegliche Auseinandersetzung zu vermeiden und maximale Risikominimierung zu betreiben. Für das eigene Blog bedeutet das beispielsweise: Idealerweise nur eigene Fotos verwenden oder sich bei der Verwendung von Stock-Photos so weit abzusichern wie möglich. Oder auch die Eintragung der Seiten in Dokumentations-Archive wie Wayback-Machine zu verhindern. Dort nämlich finden Rechteinhaber gerne Beweise für frühere Verstöße, egal, wie lange zurück in der Vergangenheit diese liegen mögen. In Sachen Musik beinhaltet es größte Vorsicht bei der Verwendung von Samples und, wann immer möglich, das Auftreten auf dem Markt als Verbraucher, nicht Unternehmer. Denn während Konsumenten heutzutage dank starker Gesetzgebung und der tatkräftigen Unterstützung von Verbraucherschützern eine extrem starke Position genießen, sind die meisten Freiberufler auf sich allein gestellt. Einmal ließ ich ein eigenes Musikmagazin bei einem Online-Printer drucken, der ganz offensichtlich die Schnitttkanten falsch setzte. Die Verbraucherzentrale weigerte sich, sich der Sache anzunehmen, weil es sich dabei um ein aus ihrer Sicht gewerbliches Projekt handelte – und der Drucker kam mit der schlechten Arbeit durch. Als „einfacher Verbraucher“ wäre die Angelegenheit ganz anders entschieden worden.
Herausfordernde Einschränkungen
Man kann freilich genau diese Einschränkungen auch als Herausforderung betrachten. Denn während die Vertreter der sogenannten Vaporware-Bewegung ihre Musik nahezu ausschließlich auf zusammengetragenen Samples basieren und der allmächtigen Industrie damit den kollektiven Mittelfinger zeigen, kann die Orientierung in Richtung einer gänzlich von fremden Samples freien Musik auch eine Befreiung darstellen, die zu neuen Ansätzen führt. Auch stellt sich die Frage, inwiefern man die vorgegebenen Distributionswege überhaupt nutzen muss. Statt auf Spotify ein paar Streams zusammenzukratzen, auf iTunes eine Handvoll Downloads zu generieren und sich händeringend um Rezensionen bei „etablierten“ Musikmagazinen zu bemühen, ließe sich genauso ein scheinbar absurder Gegenansatz verfolgen: Die Musik nur auf der eigenen Seite anbieten oder sie auf CD-Rs brennen, sie ausschließlich unter Freunden zu verteilen oder sie direkt unabhängigen Läden und Online-Shops an zu bieten, von denen es immer noch mehr gibt, als man meint. Ein mir bekannter Labelbetreiber beispielsweise interessiert sich kein bisschen für die digitalen Vertriebswege, begibt sich stattdessen bei jeder neuen Veröffentlichung auf eine kleine Runde durch die Plattenläden von Berlin und stellt die LPs auf Kommissionsbasis in eine Vielzahl kleiner Shops. Andere wiederum spielen nur noch live und bieten gar keine Aufnahmen mehr an – ein provozierender Ansatz in Zeiten der sofortigen Verfügbarkeit.
Gemeinsam ist all diesen Modellen, dass sie einen Abschied von der Vorstellung markieren, dass die neuen digitalen Möglichkeiten, wie einstmals versprochen, jedem die Chance geben, eine Karriere im Musikgeschäft aufzubauen. Vielmehr erweist sich diese Hoffnung als ihr eigener Sargnagel. Von ihr genährt, strömt eine Schar erwartungsfroher Musiker kollektiv zu den wenigen Plattformen, auf denen der Traum realisierbar scheint. Damit konzentrieren sie die Machtverhältnisse zunehmend in wenigen Händen, spielen den ohnehin schon extremen Konsolidierungstendenzen in die Karten und machen sich verwundbarer. Die Wende ist somit geboten, und das nicht nur aus Angst vor finanziellem Ruin. Musiker zu sein bedeutet schließlich, immer auch nach neuen Wegen und Möglichkeiten zu suchen – nach den verborgenen Möglichkeiten hinter dem Schleier der harten physischen Realität.
Dieser Artikel ist in unserer Heft-Ausgabe 133 erschienen.