Depeche Mode vorzustellen, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Die britischen Synth-Pop-Pioniere gehören zu den erfolgreichsten Bands der Welt und schaffen es nach wie vor, Stadien zu füllen. Pünktlich zum Release ihres aktuellen Albums „Spirit“ stellte sich die Formation Ende März einer besonderen Herausforderung und reduzierte ihre Show so, dass sie im Funkhaus Berlin im kleineren Ambiente vor „nur“ etwa tausend Fans funktionierte. Wir hatten die Möglichkeit, Keyboarder Andrew „Fletch“ Fletcher am Tag nach diesem speziellen Event zum Gespräch zu treffen und mit ihm über den neuen Longplayer und die kommende „Global Spirit“-Tour zu sprechen.
Beat / Ihr habt gestern in einem für eure Verhältnisse intimen Rahmen eine exklusive Show gespielt, die von einem großen Telekommunikationsanbieter weltweit übertragen wurde. Wie war es für euch, vom Stadion in eine kleine Venue zurückzukehren?
Fletch / Wir haben in den frühen Jahren unserer Karriere viel in Pubs und Clubs gespielt. Daher mögen wir solche kleineren Gigs vor unseren Touren, um warm zu werden. Die Venue war fantastisch. Ungewöhnlich war nur, dass das Publikum wegen der Filmaufnahmen komplett beleuchtet wurde. Dadurch hat man jede einzelne Person gesehen. Aber es hat uns Spaß gemacht, nach sechs bis sieben Wochen Proben wieder vor Publikum zu spielen.
Beat / Ihr habt auch einige Songs aus dem neuen Album „Spirit“ präsentiert, das etwas düsterer und experimenteller klingt als viele eurer vorigen Scheiben. War dies eine bewusste Entwicklung?
Fletch / Martin und Dave schreiben beide zuhause Songs. Bevor wir ins Studio gehen, treffen wir uns und hören alles durch. Speziell Martins Songs waren diesmal sehr politisch, was ungewöhnlich für ihn ist. Es ist nun etwa zwei Jahre her, dass er diese Stücke geschrieben hat. Schon damals war er besorgt über die Richtung, in die sich die Welt entwickelt. Und offensichtlich hatte er recht, denn der Brexit und Trump folgten erst danach. Ich denke, das Album hat eine großartige Atmosphäre. Es gibt definitiv düstere Passagen, aber wir haben auch helle Momente. Wir versuchen immer, eine Balance zu schaffen.
Beat / Es lassen sich zahlreiche Details entdecken, die man teils erst nach mehrmaligem Hören wahrnimmt. Investiert ihr viel Zeit in solche Effekte?
Fletch / Es ist interessant, dass du das sagst. Wir haben einen neuen Produzenten namens James Ford engagiert, der u.a. mit den Arctic Monkeys and Florence And The Machine gearbeitet hat. Er ist fantastisch im Umgang mit Sounds und ein echter Multiinstrumentalist, denn er kennt sich nicht nur mit Synthesizern aus, sondern spielt auch gut Schlagzeug. Du hast gefragt, ob wir viel Zeit investiert haben und die Antwort lautet nein, denn wir haben das Album in Rekordzeit fertiggestellt. Wir brauchten nur drei Sessions à einen Monat, was für Depeche Mode wirklich unglaublich schnell ist.
Beat / James Ford ist ja noch relativ unbekannt. Gab es ein von ihm produziertes Album, das euch auf ihn aufmerksam gemacht hat?
Fletch / Wir haben uns alles angehört, was er gemacht hat. Aber es gab nicht das eine Album. Wir hatten den Eindruck, dass sein Gesamtwerk überzeugend ist. Hinzu kommt, dass er mit Simian Mobile Disco selbst eine interessante Band hat und in der elektronischen Musik aktiv ist. Ich finde, er hat uns einen neuen Sound beschert im Vergleich zu den Alben, die wir mit Ben Hillier produziert haben.
Beat / Wie arbeitet James?
Fletch / Sehr schnell. Wenn wir ihn zu Beginn des Tages sieben Ideen vorlegen, schafft er es, sie alle fertigzustellen. Es geht bum, bum, bum, bum. Aber er hat auch ein gutes Team am Start. Es war sehr erfrischend für uns.
Studioalltag
Beat / Wie sieht ein typischer Studiotag bei Depeche Mode aus?
Fletch / Wir sind den Großteil der Zeit alle zusammen im Studio. Meist beginnen wir um 11 Uhr. Um 14 Uhr gibt es eine Mittagspause und dann wird bis etwa 18 Uhr gearbeitet. Es war also ein relativ entspanntes Pensum.
Beat / Keine Nachtschichten also? Habt ihr früher eher die Nächte durchgearbeitet?
Fletch / Nein, eigentlich nicht. Und wir haben auch nie im Studio getrunken. Selbst in unseren dunkelsten Zeiten haben wir damit immer erst nach Feierabend angefangen. Während der Aufnahmen von „Violator“ hatten wir beispielsweise eine fantastische Zeit in Mailand. Wir haben meist bis 23 Uhr gearbeitet und sind dann noch in die Clubs eingefallen. Aber es bestand nie die Notwendigkeit, dass wir im Studio zu verrückten Zeiten arbeiten müssen.
Beat / Ihr kommt aus der Ära der analogen Synthesizer. Nutzt ihr heute auch die Welt der Plug-ins?
Fletch / Oh ja, wir verwenden viele Plug-ins, ohne aber deshalb auf den Einsatz analoger Synthesizer zu verzichten. Wir haben eine gewisse Auswahl an Instrumenten im Studio, auf die wir immer zurückgreifen können, wenn wir bestimmte Sounds suchen. Wichtig ist nur, wie es am Ende klingt. Wir sind nicht dogmatisch.
Beat / Gab es bestimmte neue Bands, die „Spirit“ beeinflusst haben? Habt ihr den Markt analysiert?
Fletch / Nein, wir machen unser eigenes Ding. Dave mag überwiegend Rockmusik, Martin am liebsten Techno und bringt den Pop-Einfluss in die Band. Und ich höre fast alles. Es gibt keine Bands, die ich als Einfluss anführen würde.
Beat / Und eine Soundästhetik?
Fletch / Die wurde schon durch Martins Demos definiert, die immer besser und besser werden, finde ich. Zu Beginn klangen sie noch längst nicht so gut (lacht). Aber nun hat er ein professionell ausgestattetes Studio zuhause und kann gute Vorarbeit leisten. Ansonsten hatte natürlich auch unser Produzent James einen großen Einfluss auf den Sound des Albums.
Beat / Wie weit sind die Demos entwickelt, bevor ihr ins Studio geht?
Fletch / Sie sind schon recht weit ausgearbeitet. Einige Stücke haben sich fast gar nicht mehr verändert. „Cover Me“ dagegen wurde noch komplett umgekrempelt. Es hängt immer ganz davon ab, ob wir das Gefühl haben, dass das Demo schon in die richtige Richtung geht oder nicht.
Beat / Du sagtest, Dave kommt eher aus der Rockmusik und Martin aus der elektronischen Musik. Nähert ihr euch den Songs der beiden im Studio unterschiedlich an?
Fletch / Nein. Die Arbeitsweise ist bei jedem Song dieselbe.
Beat / Dave hat die beiden Stücke „Cover Me“ und „Poison Heart“ zusammen mit Christian Eigner und Peter Gordeno geschrieben. Sind eure beiden Tourmusiker auch auf dem Album zu hören?
Fletch / Nein. Es bestand keine Notwendigkeit, sie ins Studio zu holen.
Beat / Erfüllt es die beiden langfristig, nur live involviert zu sein?
Fletch / Offensichtlich, denn sie sind nun schon eine ganze Weile dabei. James Ford ist wie gesagt selbst Schlagzeuger, daher brauchten wir niemanden, der im Studio Drums spielt. Bei Peter war es ähnlich. Sie wurden ja engagiert, um unseren Live-Sound zu verbessern.
Keine Hit-Singles
Beat / Ihr hattet über die Jahre so viele Hits, dass es schwer ist, diese überhaupt zu zählen. Setzt euch das bei der Produktion neuer Alben unter Druck?
Fletch / Es ist heutzutage sehr schwierig, Hits zu haben. Streaming hat die Charts sehr verändert. Die meisten unserer Fans kaufen nach wie vor CDs. Die Charts werden dagegen überwiegend von Kids geprägt, die Musik herunterladen. Uns war es wichtig, ein homogenes Album zu schreiben, keine Sammlung an Singles. Ich weiß nicht, wie das System in Deutschland ist, aber in England ist es sehr merkwürdig. „Where’s The Revolution“ war auf Platz eins bei den physischen Verkäufen, schaffte es aber nicht mal in die Top 50 der Charts, weil die Downloads und Streams mitgezählt werden. Das macht es für uns fast unmöglich, einen Hit zu landen. 16 Plätze der britischen Top 20 werden zum Zeitpunkt dieses Interviews von Ed Sheeran belegt, weil die Leute seine Tracks einzeln kaufen. Wir mussten einsehen, dass wir an Hit-Singles keine Gedanken mehr verschwenden müssen.
Beat / Die anstehende „Global Spirit“-Tour führt euch nun durch 21 Länder. Bist du gerne auf Tour?
Fletch / Wir arbeiten in Vier-Jahres-Zyklen – und das schon seit 24 Jahren. Der Ablauf ist immer der gleiche. Wir nehmen ein Album auf, promoten es und gehen auf Tour. Danach hat jeder etwa eineinhalb Jahre frei und Zeit, um sich um die Familien und Kinder sowie Seitenprojekte zu kümmern. In den 80ern haben wir jedes Jahr ein Album aufgenommen oder eine Tour gespielt und hatten überhaupt keine Pause dazwischen.
Beat / Fällt es dir während der Tour-Phasen schwer, länger von deiner Familie getrennt zu sein?
Fletch / Nein. Die Familien besuchen uns auch während der Tour und wir haben zum Beispiel den ganzen August frei und zwischendurch immer mal wieder kleine Pausen.
Beat / Achtet ihr beim Songwriting drauf, ob ein Song im Live-Kontext funktioniert?
Fletch / Ja. Wir spielen momentan fünf bis sechs neue Songs und glücklicherweise funktionieren Tracks wie „Where’s The Revolution“, „Cover Me“ oder „So Much Love“ live alle wunderbar. Das ist gut, denn ich finde, viele Stücke unseres letzten Longplayers „Delta Machina“ haben live nicht mehr so gut geklungen wie auf Platte.
Beat / Ändert ihr viel an den Arrangements, wenn ihr sie für die Live-Shows vorbereitet?
Fletch / Bei den neuen Songs eigentlich nicht. Da versuchen wir dieselben Versionen wie auf dem Album zu spielen. Aber bei alten Songs kann das durchaus mal passieren.
Beat / Allerdings sind die Drums auf dem Album zum Großteil programmiert und live habt ihr mit Christian Eigner einen echten Drummer. Sind dafür keine Änderungen notwendig?
Fletch / Er triggert seine Drums. Klar, dadurch besteht natürlich ein Unterschied zwischen Live- und Album-Versionen. Sagen wir es so, wir versuchen unser Bestes, um die Studioversionen auch auf die Bühne zu bringen (lacht).
Beat / Wenn man bereits eine der größten Bands auf dem Planeten ist, was treibt einen an, immer weiter zu machen?Fletch / Wir sind keine sehr ambitionierte Band, sondern sind glücklich über das, was wir erreicht haben. Die letzten 34 Jahre sind wie ein Traum, der wahr geworden ist. Wir hatten sehr großes Glück und sind froh, dass wir Fans haben, die uns unglaublich unterstützen, es uns aber auch ermöglichen, abseits der Touren ganz normale Leben zu führen. Wenn ich durch London laufe und in einen Pub oder ins Kino gehe, gibt es nie Schwierigkeiten.
Beat / Wirst du nicht erkannt?
Fletch / Doch, durchaus. Aber die Fans sind immer sehr höflich und sagen Dinge wie „Hi, Mister Fletcher, good luck with the tour“. Dave und Martin geht es in New York und Kalifornien ähnlich. Jeder kennt den Namen Depeche Mode, aber nicht unbedingt die Individuen dahinter. Das ist ähnlich wie bei Pink Floyd. Vermutlich würde man auch nicht merken, wenn ein Musiker von Pink Floyd in der Stadt an einem vorbei läuft, weil man es gar nicht glauben würde, wenn es passiert (lacht).
Beat / Gibt es für die Zukunft noch Dinge, die du mit Depeche Mode erreichen möchtest?
Fletch / Nein. Derzeit sind wir einfach nur froh, dass die Fans und Kritiker das neue Album gleichermaßen zu lieben scheinen. Das fühlt sich sehr gut an, denn man hat das Gefühl, ausnahmsweise mal etwas richtig gemacht zu haben (lacht).
1981 | Speak & Spell
1982 | A Broken Frame
1983 | Construction Time Again
1984 | Some Great Reward
1986 | Black Celebration
1987 | Music for the Masses
1990 | Violator
1993 | Songs of Faith and Devotion
1997 | Ultra
2001 | Exciter
2005 | Playing the Angel
2009 | Sounds of the Universe
2013 | Delta Machine
2017 | Spirit