Nach einer musikbesessenen Jugend in Beirut hat es Nur Jaber zu einer führenden Persönlichkeit der Berliner Szene geschafft – sowohl als innovative Produzentin als auch als mutige DJ. Tobias Fischer sprach mit Nur über Ableton-Kurse im Libanon, warum Jazz sie schon mal in den Wahnsinn treibt und weshalb gutes DJing ein wenig wie Vorspiel ist.
Beat / Es ist dir gelungen, eine Karriere als Musikerin aufzubauen, obwohl sogar deine eigene Familie dagegen war. Was für Lehren hast du daraus gezogen: Sollte man seinen Traum leben oder muss man auch realistisch sein?
Nur Jaber / Das hat mir gerade zu Anfang wirklich Angst gemacht. Ich war sehr verwirrt - genau wie viele andere DJs, nehme ich an. Vor Covid fühlte es sich an, als ob meine Karriere ein neues, höheres Level erreicht hatte. Als dann alles zusammengestürzt ist, habe ich sehr an mir gezweifelt. Was wird mit der Szene passieren? Was für Talente habe ich außer DJing? Werden sich die Leute an mich erinnern? Sollte ich mich nach anderen Jobs umsehen oder pragmatisch sein, so wie es mir zu Anfang jeder geraten hat?
Beat / Zu was für Antworten auf diese Fragen bist du gelangt?
Nur Jaber / Nach verschiedenen einschneidenden Erlebnissen während der Pandemie bin ich jetzt davon überzeugt, dass das Schicksal für und nicht gegen mich arbeitet. Hinter allem steht eine größere magische Kraft, die wortlos im Hintergrund arbeitet. Ich habe mich gegenüber anderen Möglichkeiten geöffnet, bin neue Kollaborationen eingegangen und erweitere ständig meinen musikalischen Horizont.
Beat / Wann hat dich diese stille Kraft zum ersten Mal zur Musik geführt?
Nur Jaber / Als ich 14 war, habe ich damit angefangen, Texte und Klavierstücke zu schreiben. Ich war einfach nur eine chaotische Teenagerin, die ihre Gefühle herausgelassen hat. An der Universität wurde dann mein Interesse an elektronischer Musik geweckt. Ein Typ namens Moe hat mir Unterricht in Ableton gegeben. Er besaß einen netten Musikladen mit angeschlossenem Studio in Beirut, der „Per-Vurt“ („Per-Versling“) hieß. Ich habe mich stets gefragt, warum er sich für gerade diesen Namen entschieden hat [lacht]. Er war ein leidenschaftlicher Lehrer und hat mich dabei unterstützt, meine Liebe für elektronische Musik zu entwickeln.
Beat / Später hast du dann eine Weile Schlagzeug an der renomierten Berklee Universität studiert. Was hast du dabei gelernt?
Nur Jaber / Ich war nicht lange an der Berklee, aber ich habe dabei ein Verständnis dafür gewonnen, dass Technik und Theorie wichtig sind, um deine Musik zu formen. Das Schlagzeugspiel hat gezielte Areale meines Gehirns trainiert. Du musstest all diese Paradiddle üben – das sind bestimmte Schlagzeugübungen – und ein bestimmtes Tempo halten, dabei gleichzeitig die Akzente an den richtigen Stellen setzen. Es hat mich damals nahezu in den Wahnsinn getrieben. [lacht]
Beat / Hast du viel Jazz gespielt damals?
Nur Jaber / Ich habe tatsächlich Jazz gespielt und es verlangt dir sehr viel Konzentration ab. Unser Lehrer hat uns angewiesen, eine halbe Stunde einen Shuffle zu spielen. Dann hat er sich hingesetzt und in aller Seelenruhe seinen Sandwich gegessen. Dabei hat er nur darauf gewartet, dass wir einen Fehler machen. Das war eine ganz schön knifflige Aufgabe!
Beat / Nach deinem Umzug nach Berlin hast du Ben Klock im Berghain auflegen sehen. Warum war genau dieses Erlebnis für dich so wichtig?
Nur Jaber / Das war 2014 und das zweite Mal, dass ich nach Berlin gezogen bin. Es war gar nicht so sehr Bens DJ-Set an sich, sondern der Berghain als Club. Er hat eine Tür in eine andere Welt geöffnet. Nach dem Erlebnis habe ich auch damit angefangen, selber ernsthaft elektronische Musik zu produzieren und meinen ersten eigenen Track fertig gestellt.
Beat / Hattest du aus deiner Zeit im Libanon schon DJ-Erfahrung?
Nur Jaber / Ein wenig. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich mein erstes DJ-Set in einer kleinen Kneipe in Beirut vor vielen, vielen Jahren. Die Location nannte sich „Proof“ und befand sich auf der Gemmayze-Straße. Der Auftritt hat um die sechs Stunden gedauert, ich habe vor allem Chilliges und House aufgelegt und dafür um die 40 Dollar bekommen. [lacht] Im Berghain habe ich Freiheit gefunden, persönliches Wachstum und eine Gemeinde, von der ich niemals gedacht hätte, dass es sie überhaupt gibt. Als ich Ben an diesem Abend auflegen sah, fühlte es sich für mich so an, als sei ich am richtigen Ort zur richtigen Zeit und mit den richtigen Leuten. Es war, als habe mich eine größere Kraft dorthin gebracht, um meine Reise zu beginnen.
Beat / Was macht gerade das Berghain so besonders?
Nur Jaber / In diesem Gebäude kann ich in meinen Sets wirklich eine Geschichte erzählen, ohne dass ich dabei gehetzt werde. Ich weiß, dass ich an diesem Abend oder an diesem Morgen ein vierstündiges Set spielen werde und dass die Leute dorthin kommen, um mir dabei zu zuhören. Zusammen erzeugen wir auf dem Tanzflur einen ganz bestimmten Vibe und das Aufregende ist, dass du vorher nie weißt, welche Geschichte herauskommt. Jeder im Raum will dasselbe, aber wir tragen alle eine andere Energie in uns. So wird jedes Set zu einem neuen Erlebnis und das ist für mich etwas wirklich Besonderes. Ich brauche diese Erfahrungen und ziehe aus ihnen die Kraft, die ich brauche.
Beat / Wenn jedes Set anders ist, bedeutet das, dass Improvisation eine zentrale Rolle spielt?
Nur Jaber / Improvisation ist auf jeden Fall etwas Wunderbares. Du kannst den Dingen den Raum geben, sich einfach zu entfalten. Ich weiß immer, womit ich anfangen werde, das setzt den Ton für das ganze Set. Ich lege in der ersten Phase gerne Tracks auf, die sich langsam entfalten und einen Fluss erzeugen. Es hilft manchmal, wenn sich die Stücke ähneln, das sorgt für ein stabiles Fundament. Es ist ein wenig wie Vorspiel [lacht]. Du willst die Bewegung auf dem Dancefloor langsam initiieren, bevor es richtig heiß wird!
Beat / Du hast vorhin erwähnt, dass du in Berlin deinen ersten Track fertiggestellt hast. Manche Leute scheinen zu vergessen, dass du auch eine sehr begabte Produzentin bist.
Nur Jaber / Mein erstes Studio war in einem kleinen Zimmer in der Dresdner Straße hier in Berlin. Es bestand nur aus meinem Laptop, einer billigen Yamaha Soundkarte, einem Mikro, einem Miditech i2-Control 37 und einem Paar Lautsprecher. Im Laufe der Jahre kam dann noch mein Lieblingsgerät dazu, der Nord Lead 4. Natürlich habe ich inzwischen die Soundkarte und die Lautsprecher ausgetauscht und mir noch jeweils eine Roland TB03 und TR-09 sowie einen Korg Elektribe SX besorgt. Ein Jahr lang durfte ich mir einen Moog Sub37 ausleihen, aber ich musste ihn inzwischen leider wieder zurückgeben. Den hole ich mir aber auf jeden Fall wieder! Die Wohnung, in die ich vor zwei Jahren gezogen bin, hatte außerdem einen Flügel. Das ist mein liebstes Instrument. Ich kann es nicht erwarten, meinem Studio-Setup ein richtiges Klavier hinzuzufügen.
Beat / Dein erstes Album, „A State of Peace“ hatte eine interessante Entstehungsgeschichte.
Nur Jaber / Ich hatte mich eigentlich entschieden, ein Techno-Album zu schreiben. Eines Nachts, nach einer langen Session, konnte ich nicht schlafen. Die Musik fühlte sich unnatürlich und falsch an. Ich erinnere mich noch daran, wie ich noch mal aufgestanden bin und in meinem Musiknotizbuch geblättert habe. Ich habe eine Sonne und einige andere Figuren gemalt und die Worte „A State of Peace“ notiert. Ich habe mir meine Notizen aus meiner Zeit als Schlagzeugerin an der Berklee und alte Texte angesehen. In dem Augenblick habe ich mich entschieden, die Dinge einfach fließen zu lassen und alles zu nutzen, was ich bis dahin gelernt hatte. Ich habe aufgehört, um jeden Preis Techno zu produzieren. Drei Monate lang bin ich danach jeden Tag aufgestanden und habe jede Klaviermelodie, die ich im Kopf hatte, notiert. Aus diesen Klavierstücken hat sich das Album dann entwickelt, es entstanden Schlagzeug-Muster auf der Roland TR-909. Ich habe mich dem Album viel verbundener gefühlt, weil es aus einem Zustand kam, der mir bis dahin fremd war, eben etwas Friedvollerem. Es war ein Wendepunkt nach all der aufgestauten Wut, die ich nach meiner Zeit in der angespannten politischen Situation im Libanon in mir herumtrug.
Beat / Dieses heilende und spirituelle Element scheint in deiner Musik oft enthalten zu sein. Ganz besonders auf deiner neuen, eher Ambient-angehauchten EP „Awakened Whisperer“.
Nur Jaber / Es ist das schönste Gefühl überhaupt, wenn du spürst, wie ein Song unmittelbar deinen ganzen Körper berührt, Gänsehaut erzeugt, Visionen - das Gefühl, an einen anderen Ort versetzt zu werden. Es ist magisch, wie ein Song all das in dir wachrufen kann. Während des Lockdowns im März 2000 saß ich draußen an einer Straßenecke und habe einen Kaffee getrunken. Ich habe diese Stille verspürt und sie hat so intensiv geatmet, dass ich in meinem Kopf fast eine Symphonie hören konnte. Ich habe zum ersten Mal wirklich hören können und hatte eine musikalische Vorstellung von einer Komposition gewonnen – nur durch das Spiel der Klänge des Universums.
Beat / Wie würdest du deine Entwicklung als DJ bis heute beschreiben?
Nur Jaber / Sie fühlt sich auf jeden Fall sehr real an und sie hat sich parallel zu meinem Wachstum als Person vollzogen. Die Nur die du heute im Club auflegen siehst, ist die Nur, die dir als Person entgegentritt. Jedes neue Erlebnis offenbart etwas Neues über mich als DJ und als private Person. Für mich ist Kunst eine Form, das Vergangene und Gegenwärtige auszudrücken, es ist eine Botschaft unseres Erzeugers, die sich in der physischen Welt manifestieren möchte. Es ist eine Botschaft, die sich ihren Weg bahnen muss, weil andere sie auf ihrem Wachstumspfad brauchen. Zumindest fühlt es sich für mich so an.
Nur Jabers aktuelle EP, „Awakened Whisperer“, ist auf ihrem eigenen Label If Only erschienen.